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MenschSein 2005 – Ausstellung von Walter Kaune –

2. September 2005, Galerie im Berufsförderungswerk Goslar

Gut abgeschottet gegen die Stadt befinden wir uns hier in den Räumen des Berufsförderungswerkes – übrigens in einer Mitgliedseinrichtung des Diakonischen Werkes unserer Landeskirche. Hier läuft die Goslarer Bürgerin, der Goslarer Bürger ihnen nicht gleich über den Weg, den Werken von Walter Kaune – so ohne Vorwarnung. In der Innenstadt kann einem das ja passieren. Hinter Karstadt, vor der Jakobikirche, in der Jakobikirche: aufschreckende, unübersehbare Wegmarkierungen, interpretierende Zeichen. Da kann man nicht so einfach dran vorbei. Und eine Kirche, vor der einer hockt, „den man im Dunkeln nicht sieht“, wird darauf befragt werden, ob sie sich den Elenden verpflichtet weiß, wenn sie denn glaubwürdig bleiben will. Ebenso eine Stadt, die sich solche Kunst zumutet. Wie wäre das, ein Kaune an jeder Ecke, auf jedem Platz?! Gestalten, die von seelischem Leid, von Leere, Depression, Sucht und unerfüllter Lebens-Sehnsucht zu erzählen wissen? Ob der öffentliche Raum das vertrüge? Oder ist es eine Schreckensvision? Wie wäre das: Die Figur „Opfer“ vor dem pleite gegangenen Laden? Das Werk „Weil ich lebe, störe ich“ vor der Agentur für Arbeit?! Vor der Tourist-Information am Marktplatz die Bronze „Erschöpfter“?! Zu viel Expressivität? Zu viel Elend? Zu viel öffentlich gemachtes menschliches Leiden?

Man bedenke: Sie sind ja da! Tagein, tagaus durchstreifen sie die Stadt: in der Gestalt von Touristen und von Einheimischen. Gut getarnt sind sie. Man erkennt sie nicht leicht unter den Unbekümmerten und Unbelasteten, wenn man sich nicht näher mit ihnen befasst. Die verweinten, schlaflosen Augen liegen hinter der Sonnenbrille verborgen. Die verkrümmte Seele hält sich hinter einem geübten Lächeln versteckt. Wer sie nicht sehen will, übersieht sie. Wer allerdings sehen will, kann dies tun. Man schaue sich nur die tausende von Einträgen an ins Gästebuch der Marktkirche: ein stummer Schrei nach dem anderen! Und die tausende von Gebeten in den geöffneten Kirchen und die vielen Kerzen – unter Seufzen entzündet. In Walter Kaunes Figuren wird das sonst Getarnte sichtbar; es bricht heraus, konfrontiert uns mit unserem eigenen Inneren. Was in gut abgeschotteten psychiatrischen Sprechstunden mühsam ans Licht gefördert wird, was in Kliniken nach Monaten oder Jahren erst ansprechbar und bearbeitbar wird: hier wird es anschaubar.

Nun sagt er ja, der Künstler: das seid nicht ihr, das sind nicht andere, das bin allein ich. Es sind meine Zustände, es ist mein Spiegelbild, meine Seele, mein Körper. Ich setze mich mit mir selber auseinander – auch wenn ich das manchmal erst hinterher merke. Es ist wie zwischen Stürzen und Sich-wieder-Aufrichten, „In the Darkness of My Fury“, es ist schwer! Aber natürlich weiß er, der Künstler: er ist nicht allein mit solchen schwankenden Zuständen. Was ihn unterscheidet: er kann es bei sich zulassen, er kann es betrachten, er weiß dem Gestalt zu geben. Und das ist zunächst einmal das Gegenteil von Bekämpfen! Es wird nicht beseitigt, es wird ihm Dauer verliehen: durch Formen mit den Händen, durch den Guss in haltbares Metall. So leistet das, was gewöhnlich gesellschaftlich vertuscht wird, der Verdrängung Widerstand. Und so schaffen Sie, lieber Herr Kaune, eben doch etwas Über-Individuelles – und sie wissen das! Es geht auch um das Menschsein generell! Sie wissen es, wie sehr Menschen leiden. Sie wissen um die Fluchtwege, um die Ausflüchte, um die Schuld-Verschiebungen, um die Aggression aus Depression heraus. Und dass jeder Tag ein Kampf ist.

Was Sie von anderen unterscheidet und Sie damit so besonders macht, ist dies: Sie trauen sich, diese Zustände zu betrachten, ihnen Gestalt zu geben und sie so dem Begreifen zur Verfügung zu stellen. Sie erweisen sich damit als genuiner Künstler. Und sie machen sich damit angreifbar – beides gehört wohl unauflöslich zusammen. Denn der Blick auf verdrängte Seelenanteile kann Ängste provozieren, die auf den Künstler zurückschlagen. Aber das wissen Sie ja, Sie rechnen damit. Sie wollen der Wahrheit Raum geben. Und so, wie ich Sie einschätze, „lauern“ Sie auch ein wenig: warte nur ab, irgendwann wirst auch du verstehen und angesichts einer meiner Skulpturen sagen: „Du bist ja Ich ... “!

„Der zerbrochene Schlaf“, so heißt eine der gezeigten Skulpturen. Keine Ruhe mehr finden, keine Fluchtmöglichkeiten mehr haben, nur noch Schmerz und unerwünschte Wachheit. Der Titel des Werkes nimmt auf ein Buch von Ernst Herhaus Bezug, der eine Trilogie über „Alkoholismus und Selbsthilfe“ geschrieben hat. In seinem Werk „Der zerbrochene Schlaf“ schildert der Autor, wie er seine eigene Sprache wieder fand, die ihm der Alkohol entrissen hatte. Herhaus schreibt (in „Gebete in die Gottesferne“, S. 192): ich war oft getroffen, „als kritische Leute nun in Rezensionen ... mir mein eigenes Gesicht, das ich doch selber publiziert hatte, nüchtern zeigten. So schwer ist es, ... , Tatsachen zu sehen, wie sie sind“. Was dort der Schriftsteller erfährt, hier ist es der bildende Künstler. Er setzt sich dem Risiko der Rezension aus. Und das „ohne Netz und doppelten Boden“; denn er verzichtet auf eine schwülstige Begleit-Rhetorik zum Verständnis seiner Werke, er versagt es sich, dem Ganzen eine quasi objektivierende Philosophie zu unterlegen. Kein Moralist ist hier am Werke, keiner, der fremde Fehler aufdecken will. Streng ist er nur mit sich selber. Aber: „Trage ich es denn ganz allein, das Kreuz der Ambivalenz des Menschseins?!“ Die Unerbittlichkeit des Künstlers mit sich selber trifft die betrachtende Person ins Mark: „... und was ist mit mir? ... und wie ist das bei mir?!“ „Der Maler wertet nicht, er schaut“, sagte Otto Dix, den Sie als Künstler schätzen, weil er in seiner Zeit stand. „Es gilt die Dinge zu sehen, wie sie sind ... Entrüstung kann man nicht malen“ – so begründete Dix seinen „Mut zur Hässlichkeit“ und seinen Hang zum „Leben ohne Verdünnung“.

Wenn man Ihnen, lieber Herr Kaune, eine Absicht unterstellen kann, dann ist es eine verborgene, eine sekundäre. Sie bringen zum Ausdruck: es ist möglich, sich seinem Schatten zu stellen. Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels. Weil es diese Hoffnung auch für andere gibt, sind Sie ja auch in der Suchtberatung tätig. Die Wiedergewinnung der Stabilität hat Kräfte freigesetzt, – und man hat es anerkannt durch das Bundesverdienstkreuz und Sie haben es sich selber gezeigt durch die Erringung des Doktortitels. Sie weisen die Betrachtenden auf Gefahren hin: wer die ambivalente Beschaffenheit seines eigenen Menschseins nicht wahr haben will, produziert Opfer. Das kann er oder sie selber sein – oder es sind andere Menschen. Bisweilen kaschieren Sie diese Botschaft mit Humor oder Ironie. So nennen Sie das im Elend sitzende Geschöpf mit der hochgereckten Rechten „Soldier of Fortune“ – und benutzen dabei listigerweise den Titel eines Söldner-Magazins. In Wahrheit ist der arme Kerl ein Opfer. Jeder sieht das – nur er selber nicht. Die Aussage dieser bissigen Skulptur lässt sich ohne Weiteres auf gesellschaftliche Phänomene unserer Zeit übertragen: die scheinbar so erfolgreichen Gewinner des „shareholder-value“-Zeitalters sind Opfer der eigenen Waffen – hier des Geldes. Und auch die „Hommage à Reuterswärd“ mit dem Titel „Non Violence“ bringt auf ironisierende Weise Vergessenes zu Bewusstsein: es ist nicht der Revolver, der schießt. Es ist die Hand, also der Mensch selber. So gehört der Knoten nicht in den Revolverlauf wie bei der UN-Skulptur – er muss in den Finger ...

Apropos Finger: dann ist da auch noch das „Zeitzeichen“, der „Effe-Finger“, den ich so gern beim Autofahren meinen Zeitgenossen zeigen würde. Ich traue mich das nicht, weil es Strafe kostet. Sie trauen sich, das in Bronze zu gießen. Ich fühle mich ertappt!

Die Bronze-Miniatur „Narr, ich in dieser Welt“ konfrontiert die ambivalente menschliche Struktur schließlich mit der religiösen Tradition. Das „Ave Maria“ ist Ausdruck der bangen Frage, ob Gott Gebete hört – und der Narr, das bin „Ich“ mit der Ahnung oder Befürchtung: da hört gar keiner. Warum sollte Gott mich hören – ich nehme mich zu wichtig – irgendwann bin ich doch Staub! Oder doch ... ?! Dass diese Bronze zum Plakatmotiv der diesjährigen Kleinkunsttage avancierte, das zählt für mich zu den Meisterleistungen der besonderen Art!

Und dann ist da das Pektoral. Kostbar, klein, ästhetisch. Ein wunderbares Material: Damast-Stahl, geeignet als Bedeutungsträger für „Ewigkeit“. Ein wunderbares Symbol auch das Kreuz: offene Arme, oder auch: Leid und seine Überwindung. Das Ganze handwerklich überaus gediegen gemacht. Goldener Schnitt, Idealmaße. Ein Pektoral – stolz auf der Brust zu tragen ... Aber Vorsicht: es handelt sich um ästhetisch kaschierte Ironie! Da ist vergoldetes Geld – und da ist ein merkwürdiger Christus. Er pfeift – er pfeift drauf! Gibt es diese Kraft, gegen den Strom zu leben? Lässt sich der Versuchung des Mammon widerstehen? Hier wird einer gezeigt, der es getan hat. Er ist am Kreuz verendet. Ist das das Ende – oder der Beginn der Ewigkeit?!

Wenn es eine „gute Botschaft“ für uns Menschen gibt, dann ist es jedenfalls keine „nette“ Botschaft. Das Leben begegnet uns über weite Strecken als schrecklich und als herausfordernd. Und das Kreuz macht zu allererst dies bewusst: die Welt ist fundamental unheilbar. In dieser Härte des profanen Daseins zu bestehen – und darin menschlich zu handeln, das ist unsere einzigartige Möglichkeit. „Ich war tot – und ich lebe wieder!“ Eine der im Katalog gezeigten Skulpturen ist hier in der Ausstellung nicht zu sehen. Sie hat ihren Platz auf einem sehr besonderen Grab und ist dort ein Zeichen der Hoffnung „... dann aber von Angesicht zu Angesicht“. Dieser Titel stammt aus der Bibel, Paulus – der mit dem Stachel im Fleisch, dem lebenslangen Handicap. Mehrfach hatte er gebetet, dass Gott ihm das abnehme: Fehlanzeige. Trotzdem hat er geglaubt, gehofft und geliebt; und er konnte schreiben:

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin (1. Korintherbrief, Kapitel 13, Verse 11+12).