Memorial für die Stiftskirche St. Simon und Judas
3. Juni 2007, Welterbetag
Dargestellt und gesprochen an der Stelle des Hohen Chores des provisorisch rekonstruierten Kirchenbaus. 12 goldfarben gewandete junge Menschen stehen als „Goldene Tore“ im Hohen Chor; Gerald de Vries und weitere Bläser und Bläserinnen spielen „Jerusalem, du hoch gebaute Stadt“; aus den Toren heraus entwickelt sich eine Krone auf dem Podest; herrschaftliches Trompetensignal.
Der besondere Platz und die Vision des Kaisers – Offenbarung
„Welch ein Ort“, so muss damals einer gedacht haben. Eine Vision hat er. Hier könnte sie entstehen: die Stadt Gottes. Hier könnte sie in Erfüllung gehen: die Idee, diese Erde in ein himmlisches Jerusalem zu verwandeln. Hier könnte er zeigen, der Herrscher, wie und wo die Welt regiert wird. Wegbereiter sein für das Kommen des ewigen Reiches. Triumph der Krone, der weltlichen Macht. Steht nicht in der Offenbarung des Sehers Johannes: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde ... Ich sah, dass die heilige Stadt Jerusalem von Gott ganz neu erbaut war, geradewegs vom Himmel auf die Erde versetzt. Sie war schön wie eine Braut, die sich für ihren Bräutigam geschmückt hat. Vom Thron her ertönte laut eine Stimme: „Hier wohnt Gott gemeinsam mit den Menschen.“ (nach Berger/Nord)
Und das erst nur Gedachte wird Wirklichkeit: großartige Bauten entstehen, das Kaiserhaus, – ein Profanbau selten gesehener Größe – , die kreuzförmige Basilika, ein ganz neuer Typ von Kirche, bauliches Vorbild für alle großen Kirchen des Mittelalters; die sich entwickelnde Stadt mit Kirchen, verteilt wie ein Kreuz, mit Toren an Zahl wie Jerusalem ...
Die „Krone“ zieht sich zurück und wird wieder zu Toren; violett gewandete Personen stellen auf dem Podest ein Kreuz dar.
Das Gegenüber von Pfalz und Stiftskirche als Ausdruck globaler Einheit
Zwei monumentale Hauptbauwerke auf der sanften Anhöhe des Liebfrauenberges: das „Kaiserhaus“ als „Manifestation der politischen Macht“ im Westen. Gegenüber die Stiftskirche St. Simon und Judas samt der sie umgebenden „Domburg“ als „Zeichen der kirchlichen Macht“. Kaiser und Papst in einem eindrucksvollen Ensemble. Architektur als Bedeutungsträger. Stein gewordene Vision. Hier ist es, wo Heinrich III. sich bevorzugt aufhält; hier wird sein Sohn und Nachfolger Heinrich IV. geboren. Hier finden sie statt: die Reichsversammlungen, die Fürstentage und die kirchlichen Hochfeste: der kaiserliche Ort. Hierher kommt Papst Viktor II. und weiht als höchste Instanz der Kirche das Gotteshaus: ein nicht zu überbietender Ausdruck des Miteinanders der geistlichen und der weltlichen Macht. Gemeinsam regieren Kaiser und Papst das Abendland. Weltordnung und Gottesordnung gehören zusammen.
Gottes Herrschaft auf dieser Erde, repräsentiert durch zwei Kräfte: die geistliche und die weltliche. Ein Miteinander zur Erhaltung des Weltfriedens. Ein Zusammenwirken in Einigkeit im Auftrage Gottes. Klar die Verteilung der Aufgaben: im Westen der Kaiser. Im Westen, dort, wo die Sonne untergeht, so weiß man, lauern die Mächte der Finsternis, des Untergangs und des Todes. Wer dort sein Haus baut, übernimmt die Verpflichtung, gegen das Böse zu kämpfen: der Kaiser beschützt die Kirche… Im Osten der Papst, die Kirche, der Goslarer „Dom“: Osten, wo jeden Tag die Sonne aufgeht, wo das Licht triumphiert. Ein Zeichen für Jesus Christus, den Erlöser, das Licht der Welt. Ein grandioser Traum, hier in Goslar – an diesem Ort – kommt er zur Entfaltung: der Traum vom christlichen Kaisertum, die Vision vom Zusammenwirken aller Kräfte des Kosmos. Hier in Goslar wird er wirklich – letztmals in der Geschichte. Am 5. Oktober 1056 stirbt der Erbauer des Goslarer Pfalzbezirkes – Heinrich III. – in den Armen des Papstes. Was folgt, ist ein gigantisches Ringen um die Macht im Reich – er zerbricht, der große Traum.
Das Kreuz bleibt stehen, die Krone stellt sich davor; „Zusammenbruch“ – da hinein: Gesang von Psalm 22 (Dechant Kuno Kohn)
Klage über das Zusammenbrechen der Idee des Friedens und der Einheit – Investiturstreit, Canossa, Machtstreben, Kreuzzüge ... .
Hatte vielleicht schon Heinrich III. beim Bau den Hintergedanken: mein Kaiserhaus steht höher als die Kirche, ich bin mehr als der Papst?! Hatte er nicht ein „nordisches Rom“ entstehen lassen wollen als Gegenpol zur Residenz des Papstes?! War nicht von Anfang an Konkurrenz im Spiel gewesen? Hat es nicht stets das verborgene Ziel gegeben, die Macht allein zu übernehmen?
Der Kampf zwischen Papst und Kaiser: er wird zum beherrschenden Thema der hochmittelalterlichen Geschichte. Heinrich III. setzt drei korrupte Päpste ab und bringt die Reformpäpste auf den Stuhl Petri. Schreckliche Dinge passieren: ein Rangstreit zwischen dem Bischof von Hildesheim und dem Abt von Fulda führt zu einem furchtbaren Blutbad an diesem Ort: das Goslarer Blutpfingsten. In Rom wird der geistliche und der weltliche Vorrang der Kirche beschlossen; der Streit um den Einfluss auf die geistlichen Ämter eskaliert. Heinrich den IV. trifft der Bannspruch, Canossa markiert das Zerbrechen der großen Idee.
Über 250 Jahre ist Goslar zwar ein wichtiges Zentrum im Heiligen Römischen Reich. Aber die Bedeutung schwindet. Gegen Ende des 15. Jh. ist Goslar zwar reich und einflussreich. Aber von Einheit und Gerechtigkeit kann keine Rede mehr sein. Es gibt eine ungerechte Verteilung der Güter, arme Bergarbeiter und eine reiche Priesterschaft, soziale Spannungen und Bedrohung von außen. 1528 wird Goslar evangelisch – ein gewagter Schritt für eine Stadt unter dem Schutz des katholischen Kaisers. Das Armenwesen wird neu geordnet und ein Miteinander von Kirche und Bürgerschaft vereinbart. Aber Vieles ist zerstört, Kaiser sind nicht mehr zu sehen in der Stadt. Die reichsweite Zentralstellung: sie ist dahin.
Krone und Kreuz bauen sich ab; die Krone wird wieder zu den 12 Toren.
Die Welt ändert sich / Goslar ändert sich – aber die Sehnsucht nach Frieden und Einigkeit bleibt; an diesem Ort hat diese Hoffnung einen Anknüpfungspunkt; das Miteinander in der Gesellschaft und der Welt: Globalisierung positiv. Mit dem Ende des alten Reiches verliert das Domstift die historische Bedeutung und den Schutz des obersten Regenten. Goslar wird Spielball zwischen Preußen, Frankreich und Hannover – und sinkt ab zu einer unbedeutenden verarmten Landstadt. Die Anlage verfällt, notwendige Reparaturen unterbleiben. Schließlich die Versteigerung und der Abbruch der Stiftskirche. Nur noch die Vorhalle und in den Parkplatz eingelassene Steine erinnern an das Bauwerk. Vergessen ist die Idee vom himmlischen Jerusalem ...
Grün gewandete junge Menschen stellen ein Knospe dar, die sich entfaltet..
Die Symbolik auf dem Stuhl der Kaiser als Hoffnungssymbol für eine bessere Welt: der Lebensbaum. Vision für den besonderen Ort ( resurrectio – Auferstehung )
Im Herzen der Goslarer aber ist die Erinnerung geblieben. Tief drinnen der Gedanke: warum sollte sie nicht wieder heil werden, unsere Stadt?! Warum sollte die Vision von damals nicht wieder aufblühen?! Warum sollte hier nicht etwas erstehen, wieder erstehen – resurrectio?! Ist es nicht eine ganz aktuelle Idee: alle wirken zusammen, es gibt keine Grenzen zwischen Menschen und Mächten, alles greift ineinander zum Wohle aller. Hier, wo diese Idee letztmals sichtbare Gestalt gewann, hier soll sie einen würdigen Ort haben. Hier soll sie wirken und Kraft entfalten. Hier sollen sich Menschen friedlich begegnen, hier sollen Gedanken ausgetauscht werden, ohne Hass, ohne Gewalt, ohne Vorurteile und das alles im Geist der Liebe. So wie es schon im Neuen Testament steht:
„Die Liebe soll der Boden sein, in dem ihr wurzelt, das Fundament, auf dem ihr erbaut seid, damit ihr gemeinsam mit allen Heiligen die unfassbare Breite und Länge, Höhe und Tiefe dessen, was Gott ist, ermessen könnt und begreift, dass die Liebe, die von Christus ausgeht, mehr wert ist als alle Erkenntnis. Dann werdet ihr ganz und gar erfüllt mit Gott. Gott kann ... weitaus mehr tun, als wir zu bitten wagen oder überhaupt denken können.“ (Epheser 3,17b-20a; Übersetzung Berger/Nord)
Und ist da nicht die Lehne des Stuhles der Kaiser, ist uns da nicht ein wunderbares Symbol überliefert: das Granatapfelornament, samenhaltige Früchte „am Baum“ – übereinstimmend mit dem sich darbringenden Leib Christi am Kreuz. Ein wunderbares Zeichen für die Lebensfülle. Das Lebensbaum-Gerank, in dem Gerechte und Ungerechte sich nähren. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht“ (Johannesevangelium 15, 5). So möge aufblühen, was noch verborgen liegt!
Aus der Knospe heraus blüht es rot.
Posaune: „Alle Knospen blühen auf ... “; Sologesang Propsteikantor de Vries: „Alle Knospen... “; „alle“ singen ...
Goslarer Erklärung zum Welterbetag
So erklärt Goslar im Jahre 2007: „Wir setzen uns dafür ein, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in lebendiger Weise zu verbinden, und übernehmen auf diese Weise Vorbildfunktion, damit auch nachfolgende Generationen bereit sein werden, Verantwortung zu übernehmen und die Erfüllung dieser Aufgaben für ein lebendiges Welterbe fortzusetzen.“ (Ute Pötig)
Idee und Dramaturgie: Diakonin Imogen Liersch, Text (hier gekürzt): Propst Helmut Liersch; (Formulierungen auf der Grundlage div. Texte und Veröffentlichungen, u.a. von Thomas Moritz und H.-G. Griep)
Sprecher: Propst Helmut Liersch und Dechant Kuno Kohn; Assistenz: Gemeindereferentin Monika Schinke.
Darstellende: Konfirmandinnen, Konfirmanden, Teamerinnen und Teamer sowie Pfarrer Reinhard Brückner von der Gemeinde St.Stephani; junge Erwachsene aus dem Team von Diakon Wolfgang Thimm.
Musik: Bläserchor unter der Leitung von Propsteikantor Gerald de Vries; Madrigalkreis Goslar unter der Leitung von Ute Eckhof.
Ein Projekt der Arbeitsgruppe resurrectio II:
Kuno Kohn, Dierk Landwehr, Helmut Liersch, Imogen Liersch, Thomas Moritz und Dorothée Prüssner.