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Rudolf Sattler: Zeichnungen

Einführung in die Ausstellung im Goslarer Museum
24. Juli 2009

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Frau Sattler, lieber Herr Sattler, für die Gelegenheit, mich mit Ihrem Werk beschäftigen und hier darüber sprechen zu können, danke ich Ihnen. Ich tue es sehr gern, mit Überzeugung und mit Hochachtung.

Und das aus drei Gründen: Ich habe Hochachtung vor Ihnen als Zeichner. Ich habe Hochachtung dafür, wie Sie Ihr Thema „Mensch“ gestalten. Ich habe Hochachtung vor Ihrer Erinnerungskultur.

Zum ersten: Sie sind im Wesentlichen über die Jahrzehnte bei ein-und derselben Technik geblieben: der Federzeichnung. Zeichnen, das ist die Basistechnik und Basisfertigkeit für alles bildnerische Gestalten. Zeichnungen zeigen unerbittlich, ob einer was kann oder nicht. Ob er beobachten kann, Strukturen erkennt, das Körperhafte mit variablem Strich hervorbringen kann. Bei einer Zeichnung, zumal einer nicht-abstrakten – wie den Ihren -, lässt sich nichts verbergen: „es gilt der gezeichnete Strich“! Zeichnen ist über das rein Technische hinaus eine vertiefte Form des Sehens und des Sich-Aneignens. Ich weiß nach vielen Jahren des Zeichen-Studiums aus eigener Erfahrung, dass es geradezu süchtig machen kann, einen Gegenstand, einen Akt, einen Kopf so auf das Papier zu bringen, dass er darauf „lebt“. Ihre Zeichnungen sind in sich konsistent und in einer guten Weise „perfekt“ – und sie transportieren Sinn. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Ihre Werke neben solchen von Kubin, Barlach und Käthe Kollwitz, von Max Schwimmer und nicht zuletzt von Horst Janssen. Generationen von Menschen haben Sie Ihre Sicht der Dinge und Ihre Fertigkeiten zur Verfügung gestellt, sei es in der Schule, in der Kreisvolkshochschule, in Altenrode – oder auch in der von Ihnen mit gegründeten Sommerakademie zunächst am Hohen Weg, dann im Zeppelinhaus, wovon mir gegenüber nicht zuletzt Dierk Landwehr sehr schwärmt. Schade übrigens die Terminkollision: zeitgleich feiert man dort oben das 25. Jubiläum…

Entscheidend ist für Ihr Werk nun, dass das Zeichnen kein Selbstzweck blieb, nutzbar zur Darstellung von was auch immer. Nein, bei Ihnen ist es umgekehrt! Sie haben erkannt: für das, was mich innerlich bewegt, ist Zeichnen das geeignete Stilmittel, ja, sogar das klarste. Durch die Vervollkommnung der Zeichentechnik wurde es Ihnen mehr und mehr möglich, „im Kopf“ ein Konzept zu entwickeln, ein Thema, eine Gestaltungsidee, eine bildliche Dramatisierung. Die bringen Sie dann jeweils aufs Papier, nicht umgekehrt. Es ist also nicht die experimentierende Feder in der kreativen Hand, die das Geschehen bestimmt. Da hat sich vorher etwas in Kopf, Herz und Seele herangebildet, das jetzt heraus will, getrieben von dem Wunsch des Künstlers, eine packende, herausfordernde oder auch erheiternde Szene zu gestalten.

Damit bin ich beim zweiten: Sie haben in Ihrer Kunst ein klares Thema. Sie sagen es selber – und ich darf Sie zitieren: „… der Mensch in unserer Welt, was mir gefällt, missfällt, auffällt, schließlich dazu einfällt“. Inhaltlich eröffnet sich da ein weites Feld. Der Mensch steckt bekanntlich voller Hintergründe und Abgründe, voller Fähigkeiten und voller Bosheit – meist von allem etwas, ein Rätsel und ein offenes Buch gleichzeitig. Und weil es so verwickelt ist mit dem Menschen, prangern Sie nicht an. Nur ganz selten werden Ihre Gestalten zu Karikaturen oder bekommen groteske Züge. Erkennbar ist bei Ihnen ein anderes Vorgehen – meines Erachtens von starker Wirkung, wenn man sich drauf einlässt. Man muss erst einmal genau hinschauen. Ihre Bilder eignen sich nicht dazu, lässig plaudernd daran vorbei zu schlendern in dem Gefühl, das Entscheidende in Sekunden erfasst zu haben. Nein, auf ganz vielen Ihrer Blätter inszenieren Sie eine Bühne – und ziehen den Betrachter förmlich mit hinein in das gespielte Stück. Aus dem Betrachter wird ein Mitspieler, und das ist gewollt. Wer sich Ihren gesellschaftskritischen Zeichnungen stellt, kann nicht neutral bleiben, muss sich entscheiden. Mir gefällt das! Es ist genau das, was unser Menschsein ausmacht. Nie sind wir nur Betrachter, immer sind wir auch Täterinnen und Täter, auch dann, wenn wir uns raushalten. Und weil das alles Teil unseres Menschseins ist, machen Sie sich nicht zum Richter, stehlen Sie sich nicht davon auf eine höhere Ebene, sondern bleiben mitten drin.

Mit diesem Ansatz sind Sie ein „Moralist“ im philosophisch-positiven Sinne dieses Wortes; ein Moralist, der sich selber nicht ausnimmt, nicht kalt von außen betrachtet, sondern mit drin ist im Strom des gesellschaftlichen Lebens – allerdings dagegen hält. Dieser freundlich-kritische Blick auf den Menschen ist schon in der ältesten hier gezeigten Arbeit zu sehen: „Die Show“ eine Monotypie von 1964. „Ein Ausrufer auf dem Rummelplatz preist die Damen und das Geschehen in seiner Attraktion an, die Menge lauscht mit sensationslüsternen Minen.“ Wo stehe ich? Bin ich ausgeliefert? Gaffe ich? Auch die beiden Federzeichnungen im Spiegel variieren den Grundgedanken: Was sieht der Mensch, was sehe ich, wenn ich mich selber betrachte im Kontext der anderen? Oder: wer sind die Menschen, die sich da gesichtslos in den „Tempel“ bewegen, eine Arbeit aus dem Jahre 2005? „Mens sana in corpore shoppum“ steht drüber, Konsumkritik, konkretisiert an der Breiten Straße hier in Goslar, Kaiserpassage, zusammen gequetschte Fachwerkhäuser, zur Dekoration verkommene historische Bau-Zitate samt ruhendem Barbarossa…Ein „schönes“ Bild, solange man nicht richtig hinschaut. Einer meiner Favoriten: „Kulissenwechsel 1“: da hat sich der Wunsch der braven Bürger erfüllt, die „Gammelmauer“ am Jakobi-Kirchhof ist „gesäubert“ von den ärmlichen Gestalten. Stattdessen halten sich jetzt dort Bürgerinnen und Bürger im teuren outfit auf, im Reitdress, mit Rassehunden und Golfbag. Ist es so besser? Wo gehöre ich hin? Zu diesem Blatt gibt es ein Gegenstück – hier leider nicht zu sehen – das zeigt, wohin es die Armutsbevölkerung verschlagen hat: sie sitzen im hoch tabuisierten Huldigungssaal, samt Bierdose, verpeekten Rucksäcken und Straßenköter. Ein Bild voller Witz und Sarkasmus, ein Angriff gegen die gewissenlose Stammtischmentalität – in uns allen?! Diese eher heiter-satirischen Arbeiten bilden eine Art Übergang zum zweiten Teil der Ausstellung in der Galerie Tiedt, wo es etwas leichter und bunter zugeht. Sie haben aber hier im Kontext der schwereren Themen einen legitimen Platz, denn sie stellen letztlich die Frage, wovon der Mensch eigentlich lebt: von Statussymbolen – oder von lebendigen Beziehungen, Nächstenliebe und Selbsterkenntnis.

Eine eigene Gruppe bilden die Zeichnungen mit Motiven aus der Literatur, Illustrationen der sehr expressiven Art. Auch hier gelingt es Ihnen, lieber Herr Sattler, existentiell bedeutsame Momente aus großen Werken herauszugreifen und so aufzubereiten, dass sie unmittelbar berühren – wieder: sofern man sich ihnen aussetzt. „Der Golem“, der schützen soll und selber zur Bedrohung wird, der „Jedermann“, reich und keiner Schuld bewusst, am Ende nackt und bloß vor seinem Richter, „Mutter Courage“, deformiert vom Krieg, zugleich Gewinnlerin und Opfer, „Nathan der Weise“: die nie endende Suche nach der Wahrheit – alles Situationen, die Gefährdung, Abgründe und Chancen des menschlichen Lebens zeigen und uns die Frage stellen: „wo stehst du?“ – und uns vor Augen führen: ein Sich-raushalten gibt es nicht.

Ich darf hier auch kurz Ihre Zusammenarbeit mit dem von mir sehr geschätzten Paul-Otto Gutmann erwähnen, der von verwandten Grundsätzen geprägt war wie Sie. Sie haben seine köstlichen „Döneken“ illustriert – wie ich höre, sogar bei gemeinsamen Fahrten im Wohnwagen ... . Ich habe bei ihm Religionspädagogik im Predigerseminar gelernt – und freue mich, dass sein Sohn sich so intensiv um das Zustandekommen Ihrer Werkschau bemüht hat.

Und damit komme ich zum Dritten: Ich habe Hochachtung vor Ihrer Erinnerungskultur! Sie sind einer der ganz wenigen mir bekannten Menschen Ihrer Generation, die öffentlich erkennbar ihr Verhalten in der Zeit des Dritten Reiches reflektiert und daraus Konsequenzen gezogen haben. Das ist für meine Generation, die verstummte Eltern und Lehrer erlebt hat, etwas Großes. Und ein wunderbares Geschenk an die Zukunft sind die Illustrationen zum von Donald Cramer geschilderten Schicksal Goslarer Juden im Nationalsozialismus, sowie zum Schicksal der Sinti und Roma und von Gerty Spies. Dazu äußern Sie sich programmatisch:

„Ich wollte zeichnen – aber ich grübelte. Wozu das Zeichnen, wem helfe ich damit? Mir? Es musste mehr sein, etwas, was nicht nur mir, sondern auch andern Antwort gibt oder sie nach Antworten suchen lässt. Ich dachte über die Schuld meiner Generation nach. Wir können uns nicht schuldig bekennen, wo wir es nicht waren. Aber zu einfach dürfen wir es uns auch nicht machen.“ (Flötenspiel und Totentanz, S. 13)

Sie haben sich die Erinnerung an Ihre Jugendzeit zugemutet und dem standgehalten; Sie erinnern sich an das Hetzblatt DER STÜRMER, wundern sich, dass Sie die „unglaubliche Diffamierung und Verhöhnung jüdischer Mitbürger“ nicht erkannt haben. Und dann die Pogromnacht. Sie schildern, dass Sie als 16-jähriger Schüler in Leipzig am Morgen des 10. November 1938 zu den Fenstern Ihres Klassenzimmers stürzten und gebannt auf die dicken Rauchwolken starrten. Die Synagoge brannte. „Wir nahmen das hin“, schreiben Sie rückblickend, „wie man ein aus dem alltäglichen Rahmen fallendes Ereignis mehr oder weniger aufgeregt erlebt. Keiner von uns fand es gut oder spürte Genugtuung. Keiner allerdings rief aus: ´Das ist ja furchtbar!` Es war ein Brand – aufregend und doch irgendeiner.“

Die Konsequenz: Sie beginnen – Zitat – „eine Reihe von Grafiken über das Schicksal der Juden in Goslar während des Nazi-Regimes. Damit will ich mein eigenes Erleben damals und meine Schuld aus Gleichgültigkeit, Feigheit und Überheblichkeit bewusst ´hocharbeiten`, damit ich das nie wieder vergesse.“ Das Ergebnis ist ein Vermächtnis, in doppelter Weise: es hält die Erinnerung an die Opfer wach – und es dokumentiert den persönlichen Weg eines Einzelnen – Ihren ungewöhnlichen Weg – innerhalb einer Generation, die „unfähig war zu trauern“. Schön, dass der Zyklus hier zu sehen ist – wie schon vergangenen November in der Marktkirche. Versäumen Sie es nicht, meine Damen und Herren, sich diese Blätter genau anzuschauen. Sie packen zu, man erkennt konkrete Personen, klar definierte Straßen und Häuser: das ist hier, nicht irgendwo! Und Sie werden überall Statisten entdecken, „Pimpfe“ oft, mal in der Mitte, mal am Rande: „ganz normale Jungen, nicht etwa hässlich oder brutal“ (Sattler). „Ich war Pimpf in dieser Zeit“, schreiben Sie, lieber Herr Sattler – und begeben sich auf die Bühne, mutig – und gewiss in der Hoffnung, dass andere Ihnen folgen: wo war ich damals, wo wäre ich gewesen? Fragen an den Menschen, an Dich und mich. Und die hören mit 1945 nicht auf.

Das Blatt „Sintos Trauma“ zeigt, dass die Diskriminierungen weitergehen, mitten unter uns. Über Stammtischparolen können Sie sich aufregen, über Sprüche wie „…hört doch endlich auf mit dem Gerede von Schuld…“ Sie mögen Literaten wie Lessing, Brecht oder Heine, die gegen den Strom schwimmen und ihre Zeitgenossen kritisieren. Zu denen gehörte auch Tucholsky mit seinem wenig bekannten, und wenn, dann verkürzt wiedergegebenen Goslar-Zitat: 1923 beobachtet er in der Bismarck-Nische im Achtermann eine Runde wohlsituierter Herren. Sein Fazit: „Nicht eine Spur von Selbsteinkehr, nicht ein Lichtlein Demut, Selbstkritik, Blick nach innen – vielmehr ein dummdreistes Geschrei gegen den Erbfeind, ein Gassenantisemitismus … umbrodelt von einer heidnisch-germanisch-christlichen Bieranschauung“ (K. Tucholsky, Ausg. 1995, Bd. 3, S. 369). 1923, da waren Sie, lieber Herr Sattler, ein Jahr alt und in Leipzig. Was daraus wurde – Verfolgung und Vernichtung von Menschen -, das haben Sie gezeichnet. Es ist schön, dass Sie in den letzten Jahren auch noch Autobiographisches anfertigen konnten: Bilder Ihrer Herkunft, in der Werkstatt des Vaters – oder auch als Waldarbeiter mit Abitur in der Goslarer Forst. Diese Blätter empfangen uns in Raum 1.

Zum Ende hin hängt der eindrucksvolle Text der deutschen Jüdin Gerty Spieß; auch diesem Gedicht haben sie ein Blatt gewidmet. Es bildet für mich so eine Art Überschrift über ihr Werk – und darum möchte ich damit schließen. Man sieht im Vordergrund zwei wohl-situierte Herren, die sich vom Geschehen im Hintergrund abwenden. Da ist ein KZ zu sehen, eine Frau in gestreifter Jacke klammert sich an den Stacheldrahtzaun – in der Hoffnung, dass die beiden im Vordergrund sie wahrnehmen; direkt hinter ihr ein SS-Mann, der sie gleich wegzerren wird – oder töten? In diese Szene hinein stellen Sie den Text:

Was ist des Unschuldigen Schuld –
Wo beginnt sie?
Sie beginnt da,
Wo er gelassen, mit hängenden Armen
Schulterzuckend daneben steht,
Den Mantel zugeknöpft, die Zigarette
Anzündet und spricht:
Da kann man nichts machen.
Seht, da beginnt des Unschuldigen Schuld.