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Gedenkansprache am Volkstrauertag

Ehrenmal Friedhof Hildesheimer Straße
13. November 2005

Gut, dass es diesen Tag der Erinnerung gibt! Wer kein Gedächtnis hat, verliert die Orientierung. Das ist im Straßenverkehr so, das ist im Leben des einzelnen Menschen so – und das gilt auch für Völker und Nationen. Man kann nicht einfach die unangenehmen Teile des eigenen Lebens ausklammern. Wir wissen heute: solche Verdrängung bringt psychische Schäden hervor. Ebenso ist es mit menschlichen Gemeinschaften: sie werden krank, wenn sie ihre Vergangenheit nicht verarbeiten – und wenn sie nicht da, wo es angebracht ist, trauern.

Leider war und ist sie in unserem Land verbreitet: die Unfähigkeit zur Trauer. Meine Generation hat überwiegend darauf verzichten müssen, von der Kriegsgeneration die ganze Wahrheit zu hören. Häufig beschränkten sich die Auskünfte auf Sätze wie: „Das verstehst du nicht!“ oder „Ich will davon nichts mehr hören!“ Tränen in den Augen von Männern haben wir selten gesehen. Aber wir haben es immer gespürt: die Leiden des Krieges haben trotzdem nachgewirkt. Viele verstummten, viele flüchteten sich in die Arbeit, viele blieben ihr Leben lang seelisch verwundet.

Naturgemäß gibt es immer weniger Menschen, die Augenzeugen waren, Opfer, Täter waren. Vieles, was vor Ort passiert ist, ist nicht mehr zu erheben. Dankbar bin ich allen, die versuchen, Spuren zu finden und damit manches dem endgültigen Vergessen zu entreißen. Es geht ja dabei nicht um Schuldzuweisung. Persönliche Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen helfen zu verstehen. So werden die Opfer geehrt: indem ihr Schicksal dokumentiert wird und sie nicht namenlos bleiben. Gleichzeitig hilft das historische Verstehen, in Zukunft anders und besser zu handeln.

Wir stehen hier also nicht, um ewig an die Schuldgeschichte unseres Volkes und Einzelner gefesselt zu bleiben. Wir stehen hier auch nicht, um Opfer nachträglich zu Helden zu stilisieren. Wir wollen den Bann brechen. Wir wollen frei werden, uns den dunklen Seiten zu stellen – und die Opfer dadurch ehren, dass wir aus ihrem Schicksal lernen. Mehr als 50 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, ein rassistisch geprägter Vernichtungskrieg, zahllose verwüstete Städte und Dörfer, die unfassbare Vernichtung der Juden – all das übersteigt die Vorstellungskraft. Wir stehen hier, weil wir uns der mahnenden Kraft dieser Schrecken stellen.

Wir dürfen uns nicht täuschen. Wir sind heute nicht „bessere Menschen“. Niemand vermag zu sagen, wie er oder sie damals gehandelt hätte. Mit Dank schauen wir auf die wenigen, die damals Widerstand geleistet haben. Die Verschwörer des 20. Juli, die Mitglieder der „Weißen Rose“, Männer und Frauen wie Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Bernhard Lichtenberg oder Sophie Scholl – es gab sie, die Mutigen, die Glaubensstarken, die zum Martyrium bereiten. Aber es waren wenige, auch unter den Christen. Das national-sozialistische System konnte funktionieren, weil alle Maßstäbe versagten und im Handumdrehen außer Kraft gesetzt waren. Erschreckend viele waren blind für das Böse, verführbar, zum Mitlaufen bereit – und zu grausamen Taten in der Lage.

Wir stehen hier auch, um uns gegenseitig zu warnen – vor uns selber. Schon ein kurzer Blick auf die Geschichte der Volkstrauertage zeigt, wie langsam dazu gelernt wird. Lange Zeit bestand eine Scheu, an diesem Tag nicht allein der getöteten Soldaten beider Weltkriege zu gedenken. Es dauerte, bis man die Opfer einbezog, die Widerständler, die Deserteure, bis man die Kriegsschuld benannte und die gemeinsame Verantwortung für den Frieden in den Vordergrund der Feiern rückte. Es gab eine verständliche Besorgnis, dass die Opfer der einen gegen die Opfer der anderen aufgerechnet werden könnten. Lange dauerte es auch, bis die Opfer von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung mit ihrem Leid umfassend wahrgenommen wurden. Dankbar können wir heute sagen: das Schwarz-Weiß-Denken ist im Prinzip überwunden. Es wächst das Verständnis für das individuelle Schicksal. Und uns wird zunehmend bewusst: wir tragen gemeinsam weltweite Verantwortung. Die Welt darf nicht in Sieger und Besiegte aufgeteilt werden, in Gute und Schlechte, in Gewinner und Verlierer.

Nur passiert genau das heute. Es tobt ein weltweiter Krieg. Man nennt das anders; es spielt sich mehr in Kategorien der Wirtschaft ab: Globalisierung, Kampf ums Öl ... Und das Erschreckende: Krieg mit Panzern, Raketen und Gas und Atombomben ist eine Option geblieben. Unfassbar! Über 50 Millionen Opfer haben nicht gereicht, dieses Mittel der Auseinandersetzung aus dem Köpfen zu vertreiben. Mit Erschrecken sehen wir, wie dünn sie noch ist, die Decke der Demokratie. Das Abgleiten in Willkür, Despotie und Grausamkeit: wir können es im Fernsehen mit verfolgen. Und es sind eben nicht nur vermeintliche Schurkenstaaten, welche die Errungenschaften der Demokratie außer Kraft setzen; es sind auch die moralisch angeblich „höher“ stehenden. Verwerflich ist es, sich dabei auch noch auf Gott zu berufen.

Dass wir hier stehen und mahnen, das ist keine Folklore! Es ist eine Verpflichtung! Die Opfer der Weltkriege haben ein Recht darauf, dass wir alle Kräfte für die Schaffung eines gerechten Friedens einsetzen. Wir wollen ihn loswerden, den Fluch der sich fortzeugenden Gewalt. Die Hoffnung, dass dies gelingt, wollen wir immer stärker werden lassen! Ich persönlich glaube, dass wir dafür eine Kraft brauchen, die nicht wir selber sind. Der christliche Märtyrer Dietrich Bonhoeffer hat gesagt: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen ... Ich glaube, dass auch unsre Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“