Tschernobyl – „Wunden heilen langsam“
Eröffnung der Ausstellung „Drei Leben danach“ im Haus Hessenkopf
18. März 2003
„Immer im Einzelnen nur hab´ ich das Ganze geschaut!“ Ein Wort von Schiller. Daran muss ich denken, wenn ich die Bilder hier sehe. Irina, Swetlana und Ola schauen uns an und erzählen uns ihre Geschichte. Drei Menschen, drei Kinder, jedes eine Person mit Namen, Gesicht und mit unverwechselbaren Merkmalen. Große Zahlen machen anonym. Wenn man von zwei Millionen Geschädigten redet, dann hat niemand von diesen mehr einen Namen. Dann ist das eine Masse – letztlich nicht vorstellbar. Wer von Millionen von Opfern weiß, weiß von keinem etwas. Wer ein Opfer persönlich kennt, weiß von allen.
Diese Erfahrung machen wir auch sonst. Wenn wir die Unfallstatistik lesen, beeindrucken uns Zahlen: Tausende tot, Hunderttausende verletzt. Mehr als letztes Jahr, weniger ... letztlich egal. Eine namenlose Masse. Ganz anders wird das, wenn wir betroffen sind. Wenn der Sohn des Nachbarn mit seinem Motorrad verunglückt ist oder der eigene Neffe sich schwer verletzt hat. Dann lassen sie sich plötzlich ermessen: die Sorgen, die Schmerzen, das Leid. Wir kommen in Gang, wir überlegen: was können wir tun, um zu helfen. Der enge Kontakt mit einem ganz konkreten Menschen macht uns empfänglich für sein individuelles Schicksal: „Immer im Einzelnen nur hab´ ich das Ganze geschaut!“ Irina, Swetlana und Ola erinnern uns an diese Erkenntnis.
Mit ihnen kehrt Verdrängtes wieder. Tschernobyl ist längst aus den Schlagzeilen heraus. Dunkel erinnert man sich an 1986. Ein paar Tote soll es gegeben haben, hieß es zunächst – und viele haben nichts anderes gehört. Die Propaganda hat gewirkt. Die Katastrophe wurde klein geredet. Auch Olga sagt: Zehn Jahre nach der Katastrophe dachten wir – was soll uns noch passieren? Die Kinder von Weissrussland bringen uns die traurige Wahrheit. Sie sind krank. So schrecklich viele sind krank. Der Alltag oft freudlos und traurig. Julia muss operiert werden – aber es ist kein Platz im Krankenhaus, es sind so viele ... Michail wurde ein Bein abgenommen. „Sonntags gehe ich mit Mama zur Andacht in die kleine Kirche am Leninplatz ... wahrscheinlich spricht sie mit Papa“. Und Swetlana sagt: „Nach der Kirche gehen wir immer auf den Friedhof zu Papas Grab.“ Wehmut liegt über all dem, Melancholie – und auch Hoffnung auf Erlösung aus unserer täglichen Not – Nadeshda.
„Immer im Einzelnen nur hab´ ich das Ganze geschaut!“ Diese Bilder von Dietrich Wegner nehmen sich des Details an – und genau so wird unser Blick geweitet. Sie machen skeptisch gegen die großen Versprechungen der Politik. Sie erinnern uns an etwas stets Wiederkehrendes: die Opfer werden verschwiegen, verdrängt, abgespeist. Wenige profitieren, das Leid tragen die Schwachen, die Alten, die Kinder. Der Mensch entfesselt die Kräfte der Natur, zündet das Höllenfeuer an – und kann es nicht mehr löschen. Und ich fürchte, in diesen Tagen wird erneut ein solches Höllenfeuer entfacht, das unschuldige Kinder verbrennt: Abdul und Sanaya im Irak, in der Folge aber vielleicht auch Jack und Mary.
Höchste Zeit, auf Gottes Wort zu hören. Jeder Mensch ist unendlich wertvoll. In hymnischen Versen drückt es der Beter des 139. Psalms aus: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war ... “ Voller Ehrfurcht erkennt da einer: ich bin ein unendlich wertvolles Geschöpf! Und wer sich so sehen kann, wird auch sein Gegenüber so betrachten: jede Einzelne, jeder Einzelne ein Geschöpf Gottes, einmalig in seiner Art, so nie da gewesen, so nie wieder kommend. Wer so denkt, wird Menschen nicht an Leib und Seele gefährden wollen. Wer diesen Blick entwickelt, wird die Finger von allem lassen, was tötet, vergiftet und verstümmelt.
Die Welt ist anders. Wir sehen das hier. Irina, Swetlana und Ola zeigen uns das, unaufdringlich, ohne komplizierte philosophische Begriffe – einfach so, anhand ihres Alltags. Sie lassen ein Empfinden zurück, das der Beter des 139. Psalms so in Worte fasst: „Wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!“ Es ist ein Geschenk, seine Klage aussprechen zu können, etwas Großartiges, in seiner Not von anderen angehört zu werden – auch dann, wenn nur sehr begrenzt zu helfen ist. Der Psalmbeter weiß: ich begreife nicht alles. Aber er hat eine Adresse: er weiß, dass er sich an Gott wenden kann und dass von ihm Rettung kommt. Paulus sagt: „Hoffnung lässt nicht zuschanden werden!“ (Römer 5, Vers 5). Zu diesem Schluss kommt er nach folgendem Gedankengang: „Wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung!“ „Nadeshda“ eben, Hoffnung, – und die möge stets lebendig bleiben!