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Reformationsfest – Römer 3,21-28; Matthäus 5,1-10 -

1. November 2009

Daran kann ich mich noch genau erinnern, liebe Gemeinde! Ich bin in Salzgitter-Lebenstedt aufgewachsen und zur Schule gegangen. Am Reformationstag zogen wir los, „wir“, die Evangelischen. Hin zur Kirche im alten Dorf Lebenstedt. Das war ziemlich weit – und die Stimmung auf dem Weg war ausgelassen: kein Unterricht, statt dessen dieser Spaziergang… und den Gottesdienst, den würden wir auch überstehen. Das Schönste aber: die katholischen MitschülerInnen hatten Unterricht. Toll! „Ein feste Burg ist unser Gott!“ das sangen wir da mit Begeisterung! – Viel verstanden haben wir, ehrlich gesagt, nicht damals. Irgendwie ein erhebendes Gefühl…, „evangelisch“ war wohl irgendwie das „Bessere…“ – aber warum eigentlich… wo doch am nächsten Tag die katholischen Mitschüler triumphierten: Allerheiligen, schulfrei… 1:1…

Schlimme Auswüchse hatte dieses schlichte Denkmuster. Da ist ein Dorf mit einem einzigen katholischen Schüler: der musste immer ganz hinten sitzen und für die anderen aufräumen. Und umgekehrt, woanders: die einzige evangelische Familie im Ort – sie wird auf der Straße laut als „ungläubiges Gesindel“ beschimpft… Diese Zeiten sind vorbei, dieses Schwarz-Weiß-Denken, so hoffe ich, und so erlebe ich es. Und das ist auch nötig! Es ist dringend an der Zeit, wieder darüber nachzudenken, was denn Reformation ist. Wir als Kinder damals wussten es nicht so recht; die Kinder heute feiern Halloween… – woher sollen sie’s auch wissen? Wer erzählt ihnen etwas von Martin Luther? Wo hat der Reformationstag einen festen Ort bei den Erwachsenen? Wer empfindet noch diese gewaltige geistliche Revolution? Wie schön, dass wir auf ein großes Jubiläum zugehen: 2017, 500 Jahre Thesenanschlag…, wir befinden uns in der Luther-Dekade: 2007-2017, 10 Jahre hin leben auf diesen Tag.

„So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben!“ (Rö 3,28). Und: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Rö 1,17). Alles hängt am Verständnis dieser Worte! Man kann sie völlig missverstehen: „Gerechtigkeit Gottes“. Luther sagt: „Dieser Begriff war mir geradezu verhasst!“ Zitat: „Ich fühlte mich, obwohl ich als Mönch ein untadeliges Leben führte, vor Gott als ein von Gewissensqualen verfolgter Sünder, und da ich nicht darauf vertrauen konnte, Gott durch meine Genugtuung versöhnt zu haben, liebte ich nicht, sondern ich hasste förmlich jene gerechte, die Sünder bestrafende Gottheit.“

Und dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen:

Der Gerechte lebt durch seinen Glauben. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu begreifen, kraft deren der Gerechte aus Gottes Gnade selig wird, nämlich durch den Glauben: dass die Gerechtigkeit Gottes, die durch das Evangelium offenbart werde, in dem passiven Sinne zu verstehen ist, dass Gott in seiner Barmherzigkeit uns durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben. Nun fühlte ich mich geradezu wie neugeboren und glaubte, durch weit geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein… Je lebhafter ich also bisher das Wort von der Gerechtigkeit Gottes gehasst hatte, umso liebevoller musste ich nun diese gnadenreiche Vorstellung umfassen, und so hat mir jener Ausspruch des Apostels in der Tat die Pforten des Himmels erschlossen.“

So klingt das! Das ist das Wesentliche! Das ist der Inhalt evangelischer, ja, christlicher Predigt. Eine radikale Befreiung aus menschlichen Abhängigkeiten! Eine bedingungslose Befreiung von Urteilen anderer! Eine menschheitsgeschichtliche Revolution! Von Jesus gelebt, von Paulus auf den Begriff gebracht, von Luther wiederentdeckt! Das feiern wir! „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“, es kann mir nichts anhaben! Alle Drohungen mit himmlischen und irdischen Strafen: nichtig! Alles Gerede: du musst erst dies tun und das, erst dann bist du bei Gott anerkannt: hinfällig! Frei! Weder geistliche noch weltliche Autoritäten können mich in Sachen des Glaubens bevormunden. Niemand kann mir Bedingungen stellen. Selbst als Untertan und Abhängiger in weltlichen Dingen: ich bin vor Gott ein freier Mensch! Das einzige, was wir „leisten“ müssen: dieses Geschenk annehmen! Martin Luther hat ihn weggeräumt, all diesen Schutt an Vorbehalten und Einschränkungen, an Zugangssperren zum Reich Gottes… eine absolute Freiheit der Kirche Gottes… Das ist das Entscheidende!

Was ist nur daraus geworden, liebe Gemeinde?! Wenn Sie heute mal so rumfragen, was die Kirche ist, wofür sie steht, was ihr zentraler Inhalt ist, was hören Sie da? „Nächstenliebe“, ist da zu hören, „Die 10 Gebote“, „Werte“, ja, immer wieder „Werte…“ Welch eine Falle, die uns Christen da gestellt wird! Klar, wer hört das nicht gern, dass er für „Werte“ steht, „christliche“, „abendländische“, – was soll daran falsch sein? Aber fällt es Ihnen nicht auf: in Luthers Entdeckung kommt sie nicht vor, die Nächstenliebe, kommen sie nicht vor, die 10 Gebote, die „Werte“. Nicht, dass er dagegen wäre, ganz im Gegenteil. Aber sie taugen nicht als Antwort auf die Frage nach dem Wesentlichen! Ganz im Gegenteil! Luther war ja gerade überzeugt: mit dem Praktizieren von Nächstenliebe, mit dem Halten der 10 Gebote, mit dem Einstehen für „Werte“ kann ich bei Gott nicht punkten!

Warum denn nicht? Aus zwei Gründen: Zum einen sind das alles Dinge, die längst vor Jesus da waren: Die Nächstenliebe ist eine Forderung aus 3. Mose 19,18; die 10 Gebote stehen im 2. und im 5. Buch Mose. Respektable „Werte“ gab und gibt es in allen Kulturen… Vieles davon sind – Gott sei Dank! Selbstverständlichkeiten, die längst Eingang gefunden haben in die Menschenrechte, in die europäische Grundordnung, in das deutsche Grundgesetz. Glaubt wirklich jemand, um das zu unterstreichen, bauen und unterhalten wir riesige Kirchen…?!

Und zum anderen: gutes und richtiges Verhalten ist für Jesus, für Paulus, für Luther eine Folge des Vertrauens auf Gottes Gerechtigkeit, eine Folge, eine Frucht! Wer uns einreden will, wir als Kirche seien für die Werte zuständig – Politiker tun das gern! – , beraubt uns unseres größten Schatzes: des Evangeliums, der Guten Botschaft: gerecht allein aus Glauben! Punkt! Keine Bedingung! Nochmal: Wohl aber Folgen, Früchte… Bitte erzählen Sie jetzt nicht: der Liersch ist gegen Werte! Ganz im Gegenteil! Aber verdreht mir nicht die Reihenfolge!

Wer diesen Zusammenhang übersieht oder verkennt, ruiniert das Zentrum unseres Glaubens! Da will man die Früchte des Glaubens ernten – ohne für diesen Glauben zu stehen. Da will man Äpfel essen – ohne Bäume zuzulassen. Da werden wir unter der Hand wieder zu dem gemacht, was wir doch seit Luther nicht mehr sein wollten: Sklaven des Gesetzes, begierig auf gute Werke, auf Anerkennung, weil wir doch so gut sind, so werte-bewusst… Ethisches Verhalten ist für alle Menschen eine Pflicht! Das ist keine Nische für die Kirche! Hättet ihr wohl gern! Heute wird der Kirche die angebliche Zuständigkeit für „Werte“ zugeschoben, so wie zur Zeit Luthers die Produktion „guter Werke“ angeblich Hauptaufgabe der Menschen war. Eine Verdummung – wie damals! Wie sagte Luther: „Wollte Gott, ich hätte hie eine Stimme, wie ein Donnerschlag, dass ich könnte in alle Welt schallen und das Wörtlein „gute Werke“ allen Menschen aus dem Herzen, Mund, Ohren und Büchern reißen oder doch einen rechten Verstand darauf geben. Alle Welt singt, sagt, schreibt und denkt von guten Werken, alle Predigten lauten von guten Werken… Ach, dass alle Predigtstühle in aller Welt im Feuer lägen und Pulver (Asche) wären! Wie verführet man das Volk mit ´guten Werken!´“ Luther! …Aber er war natürlich gar nicht dagegen, dass man Gutes tut, im Gegenteil. Nur ist das etwas ganz Nüchternes, quasi „Normales“, ohne Haschen nach Anerkennung, – die linke Hand weiß nicht was die Rechte tut, so geht das…

Bei Luther klingt das so: „Hast du Ohren, die das hören können, und ein Herz, das da merken möge, so höre doch und lerne um Gottes willen, was gute Werke sind und heißen: Ein gutes Werk heißt darum gut, dass es nütze sei und wohltue und helfe dem, dem es geschieht, warum sollte es sonst gut heißen? … Darum höre, wie Christus gute Werke deutet Matth. 7,12: ‚Was ihr wollt, dass euch die Leute tun, dasselbige tut auch ihnen. Das ist das Gesetz und die Propheten.’ Hörest du hie, was der Inhalt sei des ganzen Gesetzes und aller Propheten! Nicht sollst du Gutes tun Gott und seinen Heiligen, sie bedürfen’s nicht, sondern den Leuten, den Leuten, den Leuten. Hörest du nicht? Den Leuten sollst du tun alles, was du wolltest dir getan haben.“

Nüchtern, irdisch, irgendwie „selbstverständlich“; Gutes tun kann man auch ohne Glauben. Nochmal: die 10 Gebote (übrigens vor allem das erste Gebot!), Nächstenliebe, Werte, das ist alles ganz wichtig. Nur: das Gute, das Glaubende tun, sind Früchte – in aller Bescheidenheit dargebracht, ohne auf Gegenleistung zu bestehen, weder von Gott noch von den Menschen! Ein Ideal, zugegeben. Schon zu Jesu Zeiten und in der frühen Christenheit war es schwer, dieses Ideal zu leben. Die Anhänger Jesu machten schlimme Erfahrungen! Demut wurde von den anderen als Schwäche ausgelegt. Wer anderen aus seinem Glauben heraus gab, was er hatte, konnte selber arm werden und arm bleiben. Ja, sagte Jesus zum Trost: So ist das mit Gottes Reich; es kommt nicht im Triumph daher; es ist da, wo ihr auf Gott vertraut. Auch wenn ihr arm seid („arm im Geiste“, das bedeutet übrigens nicht: „ein bisschen blöd“, sondern: seine Armut in geistlicher Haltung leben!), wenn ihr Leid tragt, hungert und euch nicht gegen Anfeindung wehrt: selig seid ihr; Gott ist euch ganz nahe. So schlimm steht es um uns ja nicht, Gott sei Dank.

Zugegeben, liebe Gemeinde, es braucht Zeit, diesen Weg Gottes mit uns zu begreifen, diese Sache mit den Werken und dem Glauben. Als kleiner Schüler habe ich mich über „unterrichtsfrei“ gefreut am Reformationstag, so wie gestern vielleicht die Kinder über „Süßes“ zu Halloween. Ist ja auch was – aber nicht genug. Gemeinsam haben wir eine große Aufgabe: Luthers Entdeckung wieder deutlich zu machen – vielleicht gelingt das ja – bis spätestens 2017!

Gerecht – aus Gnade allein!

Siehe, Herr, hier ist ein leeres Fass, das bedarf wohl, dass man es fülle, mein Herr, fülle es, ich bin schwach im Glauben, stärke mich, ich bin kalt in der Liebe, wärme mich und mache mich hitzig, dass meine Liebe heraus fließe auf meinen Nächsten; ich habe keinen festen starken Glauben, ich zweifle zu Zeiten und kann dir nicht gänzlich vertrauen. Ach Herr, hilf mir, mehre mir meinen Glauben und Vertrauen, in dir habe ich den Schatz aller meiner Güter, ich bin arm, du bist reich und bist gekommen, dich der Armen zu erbarmen, ich bin ein Sünder, du bist gerecht. Hier bei mir ist der Fluss der Sünde, in dir aber ist die Fülle der Gerechtigkeit; darum bleibe ich bei dir, von welchem ich nehmen kann, nicht dem ich geben darf. (Martin Luther)