10. Sonntag nach Trinitatis – Römer 9,1-6a
8. August 2010 (Israelsonntag)
Wenn man genau hinschaut, liebe Gemeinde, dann kann man das Problem mit den eigenen Augen sehen – hier in der Kirche. Zum Beispiel hier vorn, der Altar. Christus in der Mitte, für uns ein vertrautes Bild. Links und rechts je drei Kerzen, schön anzusehen, feierlich. Was einem nicht gleich einfällt: das ist der siebenarmige Leuchter! Und das zentrale Licht ist Christus. Siebenarmiger Leuchter? Ist das nicht dieser Gegenstand aus dem Tempel des Salomo? Ist er nicht das Zeichen für die Erwählung Israels? Ja, genau! Und was hat es dann hier in der Marktkirche zu suchen? Im Braunschweiger Dom ist das ja noch deutlicher: ein riesiger siebenarmiger Leuchter. Offenbar hat es da eine Übernahme gegeben, eine Art Enteignung. Darf das sein? Wissen wir, was wir da tun? Der heutige 10. Sonntag nach Trinitatis stellt uns diese Frage. Er gilt als „Gedächtnis der Zerstörung Jerusalems“ und wurde früher als eine Art Triumphtag gefeiert: die Christen sind das wahre Israel, die Juden haben verspielt. Ein Irrtum mit wahnwitzigen Folgen. Wie kam es dazu? Man bezog sich dabei auf die Bibel. Und das, obwohl es darin Texte gibt wie den heutigen Predigttext. Ich lese aus Römer 9:
Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.
Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.
Aber ich sage damit nicht, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei.
Die Schicksalsfrage des Paulus. Er kaute an einem großen Rätsel, einer schweren Frage, die unbedingt beantwortet werden musste. Was ist mit Israel?
Er schreibt seinen berühmten Brief nach Rom…, will sich dort anmelden. Er war noch nicht dort gewesen, aber Christen gab es schon in der Hauptstadt, „Heiden“ und Juden, die an Jesus glaubten – also: anerkannten, dass er der erwartete Messias war. Diesen Christen schreibt er – und in diesen Brief legt er alles rein. Paulus war ein gelehrter Mann – und in eindrucksvoller Weise legt er dar, was er glaubt – und warum er glaubt, dass Gott sich in Jesus Christus endgültig offenbart hat.
Frohe Botschaft ist das. Evangelium. Und das besagt: aus Glauben leben wir, aus Vertrauen zu Gott. Gott spricht uns Menschen gerecht – er liebt den Zweifelnden, er erbarmt sich des Verirrten, er stellt sich auf die Seite des Scheiternden.
Das ist das neue – besser: das neu Erkannte. So ist Gott. Jesus, der Messias – mit der wunderbaren Nachricht über Gott, wie er wirklich ist.
Paulus hatte das anfangs selber nicht glauben können. Er hatte den neuen Glauben mit allen Mitteln bekämpft. Er war Christenverfolger… bis er vor Damaskus gestoppt wurde – von Christus selber: Saul, Saul, warum verfolgst du mich?
Seitdem war ihm klar: ich muss diese gute Nachricht weitersagen. Und das hat er getan, intensiv. Ganz besonders kompakt im Römerbrief…, acht Kapitel lang zunächst…, dann kommt ein tiefer Einschnitt. Paulus wird sehr persönlich und schreibt: „Glaubt mir: in mir ist tiefe Trauer und großer Schmerz!“ Nachdem er so begeisternd die Frohe Botschaft entfaltet hatte, nun dieser Stimmungswechsel!
Es geht um besagtes Rätsel, um diese schwere Frage, die beantwortet werden musste.
Paulus war fassungslos: Nichtjuden nahmen seine Botschaft des Evangeliums freudig an. Von denen hatte das keiner erwartet… Aber Gottes eigenes Volk, Israel, das lehnte ab. Nur wenige Juden wollten etwas von Jesus hören – obwohl sie doch auf den Messias warteten.
Für Paulus eine Schicksalsfrage – und für Kirche und Theologie eine Problematik, an der sie katastrophal gescheitert ist. Die katholische wie die evangelische, der Papst wie Martin Luther, – fast alle. Hätte man Paulus richtig gelesen, wäre die Weltgeschichte wohl anders verlaufen! Er hatte ja auch alles Mögliche erwogen: was war los mit seinem Volk? War es Gott gegenüber ungehorsam? War es göttliche Vorbestimmung? Hat Gott vielleicht sogar sein Volk verstoßen? Paulus ringt, er will die Antwort finden – und er findet sie:
Denn was er ihnen geschenkt hat, wird Gott niemals zurücknehmen, und dass er sie berufen hat, wird er niemals bereuen.
So schreibt Paulus schließlich am Ende dieses Abschnittes, in Römer 11. Paulus hat von Gott die Antwort auf seine bedrängende Frage erhalten. Und das gipfelt in der Formulierung: „Ganz Israel wird gerettet werden!“
Wenn man das nur immer so verstanden hätte. Wir Christen haben an dieser Stelle versagt. Wir haben das, was Paulus hier sagt, verleugnet und verdreht! Jahrhunderte wurde gepredigt, Gott habe sein Volk endgültig verworfen. An die Stelle Israels sei die Christenheit getreten, das neue Volk Gottes. Die sog. Beerbungs-Theorie: wir haben angeblich die Verheißungen an Abraham und Mose… „geerbt“, „wir“ sind im gelobten Land angekommen; „die Juden“ haben ihre geschichtliche Rolle ausgespielt.
Ein Irrglaube mit schrecklichen Folgen! Juden wurden ausgegrenzt, als Gottesmörder beschimpft, verfolgt, ermordet… Man hielt sich selbst für klug, wie es bei Paulus heißt. In Wirklichkeit entfernte man sich von der göttlichen Klugheit, von seinem Plan… Spät, viel zu spät, hat es Einsicht und Umkehr gegeben. Man hat Paulus wieder entdeckt: „… was er ihnen geschenkt hat, wird Gott niemals zurücknehmen“, heißt es da eindeutig.
Ich freue mich sehr, dass auch in unserer Landeskirche die bleibende Erwählung Israels erkannt und bejaht wird. 2004 bekam unsere landeskirchliche Verfassung eine Präambel. Darin heißt es:
Durch ihren Herrn Jesus Christus weiß die Kirche sich hinein genommen in die Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel.
Die Synode erinnerte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich an Menschen, die weitsichtiger waren als andere; an Menschen, die der Judenverfolgung widersprachen und Juden schützen wollten. Namentlich: Georg Althaus, Klaus Kennburg und Julius Seebaß… und man erinnert sich auch jener, die sich nach 1945 für eine Versöhnung von Christen und Juden einsetzten – und da ist ausdrücklich Charley Jakob in Goslar genannt, der das Konzentrationslager überlebt hat.
10. Sonntag nach Trinitatis, liebe Gemeinde, „Israelsonntag“; keine leichte Kost…, aber eine gute Nachricht: es gibt eine universelle Hoffnung, gemeinsam mit Israel!
Bei Gott gibt es keine Grenzen; er will sich aller Menschen annehmen. Paulus war es, der das in seinem Brief an die Römer so großartig formuliert hat. Niemand wird abgelehnt oder draußen gelassen. Das – und nur das – ist der Grund, dass auch wir Zeichen wie den siebenarmigen Leuchter haben. Er erinnert an die Treue Gottes. Und er fordert uns auf, sein Wort ernst zu nehmen und dankbar zu sein für die Botschaft, die wir von dem Juden Jesus von Nazareth erhalten haben.
Gott liebt auch den Fragenden und Zweifelnden, den ängstlichen und verirrten Menschen und schenkt Hoffnung jeden Tag neu, verworfen ist niemand.