<< Pfingsten – 1. Korinther 12,4-11 Inhaltsübersicht 10. Sonntag nach Trinitatis – Römer 9,1-6a >>

4. Sonntag nach Trinitatis – Lukas 6,36-42

5. Juli 2009

Das verstehen wir sehr gut, was da gemeint ist, liebe Gemeinde. Wir haben den Predigttext gehört, Herr Mücke hat ihn vorgelesen: seid barmherzig… richtet nicht… verdammt nicht… vergebt.

So heißt es im Lukasevangelium. Es sind Worte Jesu. Wenn das ein Außenstehender hört, fühlt er sich bestätigt: ja, ja, wir sollen anständige Leute sein, ist ja irgendwie immer dasselbe, was die da in der Kirche erzählen. Sei ein guter Mensch, Nächstenliebe und so… Das weiß ich auch so; um das zu hören, „muss ich nicht in die Kirche rennen…“. Ja, Recht hat er! Wenn es nur das wäre, hätten wir als Kirche wenig zu bieten. Lebensweisheiten gibt es heute an allen Ecken und Enden zu lesen; in den Buchhandlungen gibt es ganze Abteilungen: Weisheitsliteratur, selbst im Supermarkt. Wie man leben soll, was man tun und lassen soll, damit es einem gut geht – das ist tausendfach gesagt und gedruckt – auch gepredigt. …der Neuigkeitswert ist gering.

Wer in den Gottesdienst kommt erwartet mehr, zu Recht! Was ist denn eigentlich „das Andere“ am christlichen Glauben? Worin unterscheiden wir uns denn in der Ethik, im Verhalten – tun wir’s überhaupt?

Wenn man sich den heutigen Predigttext anschaut, muss man daran zweifeln, zunächst. Die Worte, die hier überliefert sind, sind nicht „originell“. Sie sind sehr wohl von Jesus, er hat sie so gesagt – aber er stand mit solchen Worten und Weisheiten nicht alleine. Es gab vor ihm und nach ihm Weisheitslehrer, die sich ähnlich geäußert haben. Es gibt ja ganz viele Schriften, die in den Jahrhunderten um Jesus entstanden sind, auch in Jerusalem, in Israel – und da steht ganz ähnliches drin: dass man barmherzig sein soll, dass man nicht nach dem Augenschein richten soll. Und auch solche Worte wie „Ein Schüler ist nicht über dem Meister“ waren bekannt: ein Rabbiner-Schüler hatte nicht das Recht, die Lehre seines Meisters zu verändern…

Was ist anders? Manche sagen ja: die Nächstenliebe – und glauben, die habe Jesus erfunden, die sei das typisch Christliche. Ein hochnäsiger Irrtum! Im 3. Mosebuch steht das schon: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! (3. Mose 19,18).

Nein! All die Versuche, das Christentum als die „bessere Ethik“ zu beschreiben, gehen ins Leere. Christen sind nicht die besseren Menschen, sie sitzen nicht auf einem hohen moralischen Ross und schauen auf die anderen herab – obwohl gerade das oft genug passiert ist und passiert. Christentum als eine Tugendlehre – „am besten“ noch einem staatlichen Regime zu- und untergeordnet. Unsere Groß- und Urgroßeltern haben das so erlebt: das wilhelminische Reich, die Hofprediger, die Kirche als eine Art Sittenpolizei, die Kanzel als Stätte des erhobenen Zeigefingers…

Was dann? Die Antwort ist einfach! Alles, was Jesus sagt, müssen wir in Verbindung zu dem sehen, was er über Gott sagt. Das klingt nur scheinbar selbstverständlich. Und in der Tat ist das entscheidend. Nur wird es ständig vernachlässigt. Ich habe ja vorhin auch so angefangen – verkürzt, falsch. Ich habe behauptet, Jesus habe gesagt: „Seid barmherzig“. In Wahrheit hat er aber gesagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“, wie Gott also!

Das ist praktisch die Überschrift. Alles, was Jesus sagt, müssen wir unter diesem Vorzeichen sehen. Er war überzeugt, dass die Herrschaft Gottes herandringt, ja, dass sie in seiner Person schon zur Wirkung kommt – mit dem „Vorzeichen“ des barmherzigen Gottes. Nichts lag ihm ferner, als allgemeine Lebensregeln aufzustellen – die gab es ja schon – und die gibt es immer wieder (Buchhandlungen). Viele, die solche Regeln für gut halten, nennen sich „christlich“ – ein fundamentaler Irrtum.

Jesus wendet sich hier an diejenigen, die bereit sind, sich auf ihn einzulassen – und die das Experiment wagen, sich schon in dieser Welt auf die kommende einzustellen. Eine Art vorweggenommenes Himmelreich auf Erden… Er hat eine Vision einer besseren Welt – und ihm gelingt es, sie schon jetzt zu leben… Er „baut“ das herkömmliche Gottesbild ab. Wir merken schon: das ist im Kern etwas ganz Exklusives, eine Jüngerschaft, kleine Gemeinden… das eignet sich gar nicht für eine allgemein verbindliche Ethik für ein Volk oder alle Völker.

Und in der Tat: Jesus wendet sich hier an die kleine Schar seiner Jünger – wir befinden uns in der Feldrede -, und verlangt quasi Unmögliches: „Liebt eure Feinde!“ ruft er seinen Leuten zu. Diesen Satz habe ich in Wahlprogrammen oder politischen Sonntagsreden noch nie gehört. Geht auch nicht!

Aber für Jesus war das so. Wohl gemerkt: die Überschrift heißt ja immer: „wie auch euer Vater/Gott…“. Spitzen-Forderungen: „tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen“. Krasse Überforderungen!

Jesus war ein Radikaler! Hassen, wenn andere mich hassen…? Das tun sie Alle!! Zurückfluchen, wieder beleidigen?... Das ist doch das Übliche! Das ist doch ein „Verhalten auf Gegenseitigkeit“ – wie du mir, so ich dir…, typisch für Menschen ganz allgemein – und anders wird das erst, wenn du dich ernsthaft auf Gott einlässt!

Josefsgeschichte: „Ihr gedachtet es böse zu machen – Gott aber gedachte, es gut zu machen!“

Jünger Jesu machen sich in ihrem Handeln nicht von anderen abhängig. Sie geben nicht, um zu bekommen. Sie schlagen nicht zurück… Sie schauen allein auf Gott (→keine Angst: ich bin bei diesem kleinen exklusiven Jüngerkreis…und meine Predigt wird nicht mit der Aufforderung enden, es nun doch so zu tun …). Wie verhält er sich gegenüber Leuten, die moralisch daneben liegen, die gesellschaftlich / religiös „im Abseits“ stehen?! Er sucht sie, er holt sie heraus… Vergleiche die Geschichte von den 99+1 Schafen… Abkehr vom strafenden Gott! Wenn jemand Zuwendung braucht, dann der Desorientierte, der Gierige, der Gewalttätige, der Abstoßende…

Wie gesagt, das geht alles nur von diesem Gottesbild her… Erst haben die Jüngerinnen und Jünger Jesu Gottes Liebe erfahren, dann hat Jesus ihnen eine solche Verkündigung zugemutet.

Die Reihenfolge ist unumkehrbar! Ein solches Verhalten ist nicht Bedingung dafür, die Liebe Gottes zu erfahren. Nein, umgekehrt: diese Liebe geht voraus – und weil sie mich umfängt und trägt, kann ich ungewöhnliches Verhalten wagen… „Reich Gottes auf Probe“… Feindes-/Nächstenliebe als Frucht, nicht als Bedingung. Und manchmal merken wir: es geht…

Immer wieder wird das verdreht. Unablässig „feiert“ der „vermutete“ Gott fröhliche Urständ. Immer wieder fühlen wir uns gedrängt, aufgefordert, gezwungen, Gutes zu tun, etwas zu leisten – damit wir akzeptiert und geliebt werden. Häufig begleitet uns das von jüngster Kindheit an. Immer Forderung, Bemühen, Scheitern, Scham, Schuldgefühl. Das sitzt tief… Statt: „Reich Gottes auf Probe“, Freispruch, bedingungslose Liebe, Orientierung daran, wie Gott zu uns ist: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“:

Jesus wendet sich an Menschen, die sich auf Gott einlassen. Er verkündigt keine allgemeine Morallehre. Er regelt das Verhalten der Christen untereinander. Und da verlangt er viel! Vor allem: dass sie Gottes Wesen kennen: Barmherzigkeit / Liebe… Ein Blinder kann einem Blinden nicht den Weg weisen, sagt er. Das leuchtet allgemein ein – aber im Kreis der Jüngerinnen und Jünger bedeutet es mehr: ein Christ kann einen Mitchristen nicht moralisch verurteilen; er ist ja selber verurteilungswürdig. Mit demselben „Defekt“ kann man nicht zur Leitfigur werden. Keiner kann sich also über den anderen erheben. In einer christlichen Gemeinschaft kann es kein „oben“ und „unten“ geben, kein Herrschen, kein Verdammen, kein Vergelten, kein Richten… – dem Gottesbild Jesu verpflichtet…

Wie gesagt: „Reich Gottes auf Probe“… Jesus bleibt unerreichte Autorität, Maß aller Dinge… Und sein Maßstab ist Gottes Barmherzigkeit: ein alle Schranken überwindendes Tun… Wir ahnen, so wäre es gut…