Quasimodogeniti – Johannes 20,19-29
19. April 2009
Ich habe hier eine Durchsage für Thomas Müller! Ist Thomas Müller hier im Raum?
Herr Thomas Müller, bitte! Nicht da? …Kennen Sie Herrn Thomas Müller? Nicht?! Er ist 44 Jahre alt… Er ist verheiratet mit Sabine Müller… …die beiden haben einen Sohn, 16 Jahre ist der… Kennen Sie nicht?
Thomas Müller ist der Durchschnitts-Deutsche! Das hat Kabel 1 kürzlich in einer Reportage festgestellt. Der durchschnittliche Deutsche heißt mit Vornamen Thomas, mit Nachnamen Müller…, und der häufigste weibliche Vorname ist Sabine… Thomas! Ich hätte ihm gern etwas erzählt, wenn er hier gewesen wäre. Aber ich kann es Ihnen ja auch erzählen, liebe Gemeinde… Es geht nämlich um Thomas heute; ich habe Ihnen ja vorhin seine Geschichte vorgelesen, aus dem Johannesevangelium. Manchmal glaube ich, dass der „Durchschnittsdeutsche“ diese Geschichte gar nicht kennt, obwohl er nach dieser Geschichte heißt. Eine wichtige Geschichte! Eine „Schlüsselgeschichte“ sozusagen; gerade für den modernen Menschen. Zum heutigen Menschen gehört der Zweifel. Das ist eine Errungenschaft! Man glaubt nicht mehr alles, wie früher, – und auch nicht einfach deswegen, weil das ein Studierter oder ein „Oberer“ sagt, sei er Herzog oder Bischof oder Lehrer oder Pfarrer… Das ist eine Errungenschaft der Aufklärungszeit – und seitdem hat sich die Welt sehr geändert – im 18. Jahrhundert ging das los… Seitdem glaubt man auch nicht mehr so bedingungslos, was in der Bibel steht. Und das ist in Ordnung so. In der Bibel gibt es durchaus Widersprüche. Es gibt vier Evangelien – und die schildern die Ereignisse abweichend…
Sind Zweifel eigentlich erlaubt, so fragen sich viele im Blick auf die Kirche. Und gern wird Kirche so hingestellt, als schließe sie Zweifel aus. So, als ob nur Leute dazu gehören, die „alles“ glauben und für wahr und richtig halten. Das ist natürlich Unsinn – und ein böses Zerrbild. Die Vorstellung, man sei „richtiger“ Christ nur, wenn man „alles“ vorbehaltlos glaube, kommt aus sektenartigen Kreisen bzw. von außen, von Menschen, die ohnehin auf Distanz sind. Zweifel gehören zum Menschsein dazu. Und Zweifel gab es immer, auch in der Antike, auch im frühen Christentum. Davon handelt unser Text! Aber er zeigt nicht nur, dass Zweifel erlaubt ist – er zeigt auch, welche Chancen darin stecken – und zu welchen Ergebnissen er führen kann, positiv.
Aber erstmal zum Text. Wir befinden uns ja im Johannes-Evangelium. Das ist das schwierigste – wahrscheinlich das jüngste, entstanden um 100 nach Christus, lange nach der Zerstörung Jerusalems um 70. Es ist ganz anders als die anderen Evangelien, Mt., Mk., Lk. Bei Johannes gilt vor allem die Passion / Kreuzigung Jesu nicht so sehr als schreckliches Ereignis, sondern es gibt hier eine ganz andere Deutung: es ist die Erhöhung Jesu im Sinne einer Verherrlichung und einer Rückkehr zu Gott; Jesus, der göttliche Offenbarer, hat den Seinen das göttliche Geheimnis offenbart und ist dann gegangen: „Es ist vollbracht“, sagte er am Kreuz, souverän, nicht leidend… Bevor dieser Weg zum Vater vollendet wird, gibt Jesus noch einen Auftrag an die Jünger, das haben wir gehört: Wie er von Gott dem Vater gesandt worden war in die Welt, so sendet er jetzt die Jünger. Denen gibt er den Heiligen Geist. Interessant: „Pfingsten“ gibt es gar nicht bei Johannes, das Pfingstwunder passiert bereits am Abend des Ostersonntag! Und es sind nicht Massen von Menschen da, sondern nur die Jünger – auch Thomas. Und die Jünger bekommen eine Aufgabe. Und auch die klingt anders als etwa bei Matthäus (Gehet hin in alle Welt…), es geht um eine Abgrenzung von der Welt! Die Gemeinschaft der Glaubenden soll sich ihrer Zugehörigkeit zu Gott bewusst sein, eins sein, soll sich durchaus ihrer Besonderheit bewusst sein: dass sie die Offenbarung Gottes hat mit der Botschaft: Wer glaubt wird nicht gerichtet, wer nicht glaubt, ist bereits gerichtet!
So, – und das klingt ja nun genau wie oben beschrieben: elitär, sektenhaft, Zweifel nicht erlaubt… Da taucht Thomas auf! Er war nicht dabei, hat Jesus nicht gesehen. „Ihr könnt mir viel erzählen!“ Der Prototyp des Zweiflers! „Wir haben den Herrn gesehen!“, sagen die Jünger, er war hier! Und Thomas hält dagegen: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meine Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben“.
Interessant: Kein Vorwurf an Thomas! Thomas vertritt die Fragen und die möglichen Zweifel des Lesers und Hörers! Er vertritt uns! Und daher ist das so toll, dass der „Durchschnitts-Deutsche“ Thomas heißt. Er darf zweifeln. Aber – Thomas wendet sich damit nicht ab! Es wäre schön, wenn auch darin der Durchschnitts-Deutsche ihm gliche! Er tritt nicht aus! Er hält sich nicht von der Gemeinde fern. Er bleibt dabei. Er hat Jesus nicht gesehen als Auferstandenen – und bleibt doch dabei. Er repräsentiert den „Glaubenden aus zweiter Hand“; das war ja das Problem der Menschen in der Zeit, als das Johannes-Evangelium geschrieben wurde. Seit Kreuz und Auferstehung waren 70 Jahre vergangen. Die Augenzeugen waren tot. Mitten in der christlichen Gemeinde saßen die Zweifel; geschürt noch durch die äußere Bedrohung (hier im Text noch erkennbar: Die Türen waren verschlossen aus Angst vor „den Juden“, ein Hinweis auf die Auseinandersetzung mit der Leitung der zeitgenössischen Synagogengemeinde; die Jünger selber waren ja alle Juden!).
Was wird nun denen, die da zweifeln, mit dieser Geschichte gesagt? Nun, erst einmal, dass das berechtigt ist, zum Glauben dazu gehört. Und dass sie nicht negativ beurteilt werden. Thomas werden von Jesus, als er dann erneut erscheint, keine Vorwürfe gemacht! Und dann: das Dranbleiben lohnt sich! Die Begegnung mit Jesus findet doch noch statt. Das wird ausführlich geschildert. Thomas bekommt seine Wünsche erfüllt, er darf sich mit seinen Händen davon überzeugen, dass es Jesus ist. Und er kommt zu dem Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“. Und noch wichtiger, für die Nachgeborenen, die Gemeinde um 100 n. Chr.: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“. Das wird gern als Meckerei, als Kritik interpretiert. Falsch! Es ist eine Verheißung. Es ist auch 70 Jahre nach Jesus, auch heute, 1979 Jahre nach der Auferstehung möglich, an ihm teilzuhaben – das ist gemeint!
Nur eines muss man dazu tun: dranbleiben! Zweifel sind berechtigt. Wenn er zu einer Grundskepsis wird, zu einer verächtlichen Ablehnung, dann löse ich mich von allem. Johannes nennt das dann Sünde! Der Unglaube gegenüber der Offenbarung, das ist die eigentliche Sünde. Nicht der Zweifel, nicht der Wunsch, Jesus zu sehen und zu fühlen, nicht das Zögern. Wohl aber die Arroganz, es nicht zu brauchen, darüber zu stehen, nicht darauf angewiesen zu sein… Und das ist das geistig-geistliche Drama unserer Zeit. Der Kontakt zu den eigenen Wurzeln wird gekappt. Jeder Wind kann einen umpusten, man hält sich an Strohhalmen fest…
Das hätte ich gerne Thomas Müller erzählt, dem Durchschnitts-Deutschen. Aber der kommt selten in die Kirche – er glaubt irgendwie an Gott, …was Höheres, …ist getauft… Aber er weiß gar nicht, dass Jesus erneut erschien, und dass da der Namensgeber von Thomas Müller das entscheidende Erlebnis hatte. Ich hätte das Thomas Müller gegönnt und hätte es ihm gern erzählt. Aber nicht so schlimm: jetzt haben Sie’s gehört. Vielleicht erzählen Sie es ihm ja weiter, dem Durchschnitts-Deutschen.