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Bürgerrede zum Kaisermahl

10. Oktober 2003 im Großen Heiligen Kreuz

„Über den Umgang mit moderner Kunst“, so lautet das Thema zwischen den Gängen. Schon das ein Beitrag. So kann man mit moderner Kunst umgehen. Dass man selbst beim Essen nicht an ihr vorbei kommt. Man könnte sie natürlich auch umgehen. Nur – in Goslar ist das nicht möglich: da steht sie überall im sogenannten „öffentlichen Raum“, und zwar so geballt, dass man um sie herumgehen muss – und so zwangsläufig mit ihr Umgang pflegt. Und hier im Großen Heiligen Kreuz ist moderne Kunst sogar „zwischen-gängig“.

Nun interessiert natürlich die Frage, wie das so bei dem Bürger Liersch jenseits solcher Wortspielereien mit der modernen Kunst ist. Er ist ja Theologe, und zwar evangelischer – und das lässt grundsätzliche Zweifel aufkommen bezüglich seiner Einstellung zur Kunst. In einem gewichtigen Werk über das evangelische Pfarrhaus heißt es: „Man wird schwerlich behaupten können, zur Tradition des evangelischen Pfarrhauses gehöre auch ein ausgeprägter Schönheitssinn ... Offenbar handelt es sich bei (dem) gestörten Verhältnis zu den Künsten des Auges ... um einen Geburtsfehler der evangelischen Kirche“ – immer noch Zitat! – „Martin Luther selbst gehörte eindeutig dem akustisch-motorischen Typus an. Als ihm der damals schon berühmte Maler Albrecht Dürer im Jahr 1518 zum Zeichen des Dankes für sein mutiges Aufbegehren ein Bild zusandte, war dem Reformator der künstlerische Wert dieses Geschenks offenbar so wenig bewusst, dass er es nicht für nötig hielt, sich persönlich zu bedanken.“

Natürlich ist das alles eine Folge des biblischen Bilderverbotes und der beargwöhnten Praxis, dass man Bilder verehrte statt Gott selber. Nicht zuletzt für Goslar hatte diese Einstellung, wo sie radikalisiert wurde, verheerende Folgen. Und so kommt es wohl, dass man bis heute bei einem evangelischen Theologen hinsichtlich von Bildern und anderen Kunstwerken wenig bis nichts erwartet. Das ist natürlich ungerecht und falsch. Aber nur so kann ich mir das vierfache „Oh“ erklären, das ich von Besuchern in unserem Hause zu hören bekomme:

Oh, Sie haben Originale in der Wohnung?! Oh, Bilder von Ihnen sind mehrfach auf Ausstellungen gezeigt worden?! Oh, Ihr Vater und Ihr Opa haben gemalt!? Oh, Ihre Tochter ist Holzbildhauerin und Kunsttherapeutin?!

Also: als Theologe ist man da faktisch in der Defensive, kann aber aus dieser heraus erstaunliche Wirkung erzielen! Mein Umgang mit moderner Kunst in diesen Tagen und Wochen? Ein Beispiel: Kürzlich habe ich einen Künstler der Moderne neu entdeckt: als einen Propheten! Dieser Mann vollzog vor 30 Jahren eine Zeichenhandlung, deren Dynamik kommt erst heute – genauer: nach dem 11. September – richtig zur Geltung. Er protestierte damals mit seinen Mitteln als Künstler gegen das, was wir heute „negative Globalisierung“ nennen, gegen den ungezügelten Wettbewerb also, gegen die soziale Kälte, gegen, wie er sagte, das „Endsystem des unmenschlichen, tödlichen Kapitalismus“. Für seine Aktion wählte er die Symbole fehlgeleiteter menschlicher Energie aus, zwei gigantische Kolosse aus Stahl und Beton: die beiden Türme des World Trade Center in New York nämlich! Zu Füßen der Zwillingstürme inszenierte er eine ironische Kunstaktion. Joseph Beuys war das: das World Trade Center – er formte es aus Fett! Das Zentrum der Bank- und Geldmacht: verfremdet, butterfarben. Fett: für Beuys ein positives Symbol, ein Energiedepot, spirituelle Wärme, die „im ICH gebündelte, konzentrierte Kreativität“ (Stüttgen). Sie ist ursprünglich eine himmlische Kraft, darauf weist der Künstler mit dem Titel „Cosmos“ und Damian hin. Mit diesen Worten beschrieb er die Ansichtskarten, auf denen die Kunstaktion festgehalten ist. Er nannte die Türme „Cosmos“ und „Damian“. Für mich als Goslarer Propst und als Pfarrer an der Marktkirche „St. Cosmas und Damian“ ist das natürlich eine sensationelle Kombination! Das Martyrium der beiden – Cosmas und Damian – ist in der Marktkirche auf romanischen Fenstern dargestellt – der älteste erhaltene Zyklus zum Leben der beiden überhaupt! Sie waren zwei Ärzte in Syrien, im 3. Jahrhundert, die wunderbare Heilkräfte hatten. Sie waren davon überzeugt, dass ihnen diese positiven Energien von Gott gegeben waren – und so gaben sie sie genau so kostenlos weiter, wie sie sie empfangen hatten: die „Geldlosen“ nennt man sie bis heute. Purer Anti-Kapitalismus! Der römische Statthalter Lysias wollte diese berühmten Ärzte zwingen, dem Kaiser und seinen Götzenbildern zu opfern. Und das hieß nichts anderes als: sie sollten ihre Kräfte als von einem Menschen, vom Gottkaiser kommend bezeichnen: ein Wechsel des Labels sozusagen, eine feindliche Übernahme ... Die Heiligen lehnen ab: „Wir verlassen uns allein auf Christus!“, so bekennen sie. Und dafür müssen sie büßen. Mit aller Gewalt wird nun versucht, die gott-gegebene Mitmenschlichkeit zu töten.

Cosmas und Damian haben Geld abgelehnt, unsere heutige Gesellschaft basiert auf dessen Vermehrung. Und nun Beuys: „Cosmos“ schreibt er auf den einen Turm – und er verändert damit den einen Namen: eine Assoziation hin zu kosmopolitischem Denken. Dieses Denken hat zwei ganz unterschiedliche Aspekte: die negative Auswirkung ist der Götze Kapital, die positive ist eine Globalisierung der Mitmenschlichkeit – also einer von Gott geschenkten kreativen Energie.

Die entsprechende Ansichtskarte habe ich übrigens kürzlich für eine Andacht in großer Zahl beim Staeck-Verlag bestellt. Am Telefon war Herr Staeck persönlich – er hat ja hier auch schon gesprochen -, Herr Staeck also auf der Geld nehmenden Seite – auch das eine Erfahrung; ich habe einen Rabatt herausgehandelt. Kunst hat natürlich eine kommerzielle Seite. Dafür darf ich im Sinne von Beuys aber die Karten auch als Originale verstehen, verkauft vom Konsum-Kritiker Staeck.

Aus zwei Gründen ist diese Aktion von Beuys für mich persönlich bedeutsam. Sie ist zutiefst religiös – auch wenn der Kunstbanause nur Butter sieht. Und sie ist zeichenhaft, riskiert das Unverständnis, kann warten, bis jemand versteht. Das erinnert unmittelbar an manche Propheten der hebräischen Bibel. Nackt und barfuß läuft der Prophet Jesaja drei Jahre lang durch die Stadt. Jeremia vergräbt einen Gürtel am Euphrat, Ezechiel streut sein Haar in den Wind. Alles Provokationen, „künstlerische“ Happenings. Man hielt diese Propheten für Verrückte. Der Gesellschaft wurde ein Spiegel vorgehalten. Heute wissen wir, was diese „Spinner“ gemeint haben. Und dass sie Recht hatten. Und wenn es morgen ins Odeon geht statt in die Kaiserpfalz, wenn der Golf den Goslarring verdrängt, dann wollen wir auch das als eine Zeichenhandlung ansehen. Der Sinn solcher Handlungen ist ja, wie eben angedeutet, nicht gleich begreifbar. Deswegen sollten wir es auch nicht versuchen.

Moderne Kunst und Religion haben Wesentliches gemeinsam. In ihren besten Vertretern befassen sie sich mit den Opfern der Gesellschaft und rühren an Tabus, Stichwort „Goslar warrior“ von Moore – bis hin zu Kentridge mit seinen gesellschaftskritischen Filmen. Paradoxer Weise werden Künstler wie Geistliche überwiegend von uns, den besser Gestellten, hofiert. Und ich glaube, dass Künstlerinnen und Künstler ihre Werke häufig deswegen nicht verbal ausdeuten, weil sonst zu viele Bürgerinnen und Bürger empört die Vernissage verließen. Sie könnten den Angriff verstehen! Der Künstler soll „müde Bürger aufschrecken“, hat einer formuliert. Ob Ähnliches auch für die Kirchen gilt und so etwas auch der Grund dafür ist, dass der eine und die andere sich einem Gottesdienst lieber nicht aussetzt, wer weiß?! Vielleicht machen wir uns auch zu wenig zum Mysterium, klären zu viel auf, statt das Unsagbare zu umhüllen. Da können wir von der Kunst lernen.

Und noch eine Gemeinsamkeit: Moderne Kunst wie Religion befassen sich mit dem Urgrund, mit dem Unergründlichen, dem Numinosum und Faszinosum, sie nähern sich mit je ihren eigenen Mitteln dem, was uns unbedingt angeht. Und dennoch stehen sie – verstehe es, wer will – unter dem Verdikt des Unverständlichen, Abgedrehten, ja, beliebig zu Verwerfenden. Diese Haltung zu Kunst und zu Religion gipfelt darin, dass jeder glaubt, mitreden zu können. Kaum irgendwo werden leichtfertiger endgültige Urteile gesprochen. Aber vielleicht ist das ja ein Qualitätsmerkmal.

Ich weiß: Kunst und Religion dürfen nicht vermischt werden. Der Jesuitenpater Friedhelm Mennekes, u.a. Honorarprofessor an der Braunschweiger HBK, weist immer wieder darauf hin. Kunst und Religion sind nicht dazu da, sich gegenseitig zu illustrieren. Im besten Fall ringen sie miteinander. Ja, die moderne Kunst verweigert sich jeglicher dienender Funktion gegenüber der Religion und die frühere Herrschaft der Religion über die Kunst ist – Gott sei Dank – gebrochen. Dennoch: wer mit Kunst umgeht und nicht auf Religion trifft, der hat sie nicht verstanden.

Das macht den Umgang mit ihr für mich so reizvoll. Für heute war es aber nur ein Zwischengang. Jetzt habe ich schon wieder Hunger. Darum: Abgang. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!