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Gerechtigkeit – ein globaler Wert

Symposium zur ökumenischen Sozialethik im St. Jakobushaus Goslar
29. August 2002

Im Januar war ich auf Einladung des Kirchlichen Entwicklungsdienstes drei Wochen lang mit einer kleinen Gruppe in Südindien. Wir haben chaotisch anmutende Städte erlebt, waren in den Slums zu Gast, haben Entwicklungsprojekte besucht, sterbende Menschen auf den Straßen gesehen. Aus dem Fernsehen kannte ich das. Aber die direkte Konfrontation bewirkte etwas Zusätzliches. Zunächst war da das hautnahe Empfinden einer extremen Ungerechtigkeit: Wie kann das sein? Warum gibt es hier nicht einen gewaltigen Aufstand der Armen? Nach einigen Tagen aber beherrschte ich schon ganz geschickt den Slalom um das Elend herum. Ich bemerkte bei mir einen Bewusstseinswandel. Ich schaute über manches hinweg, nahm es nicht mehr wahr. Mein hehres Gerechtigkeitsgefühl der ersten Tage war angesichts des Ausmaßes an Elend einer mehr abgeklärten Sicht gewichen: man kann nicht allen helfen. Der scheinbar unerschütterliche Maßstab, dass alle Menschen in Würde leben sollen – ein Maßstab, der in gut 50 satten Jahren mehr oder weniger unhinterfragt dominierte, veränderte sich unversehens angesichts einer anders gearteten Kultur.

Das Gewissen war ein wenig beruhigt, der Intellekt aber aufgeschreckt. Offenbar ist der Wert „Gerechtigkeit für alle“ in mir selber gar nicht so fest verankert, wie ich das unreflektiert vorausgesetzt habe. Was „gerecht“ ist, scheint von der jeweiligen Situation abzuhängen, in der ich mich befinde. Meinen Kindern würde ich fast re­flexartig all meinen Besitz überlassen, falls ihre Existenz gefährdet wäre. Beim Freund wäre ich schon zurückhaltender. Bei den Flutopfern müssen 100 Euro reichen. Wäre Gerechtigkeit von mir persönlich abhängig, wäre Ungerechtigkeit vorprogrammiert. Persönliche Betroffenheit kann allenfalls Anlass, Motivation und Motor sein, nicht aber Maßstab geben oder gar weltweit Verbindlichkeit erwirken.

Damit stellt sich die Frage nach den Begründungen für Werte. In kleinen sozialen Einheiten muss man darüber scheinbar nicht diskutieren, in der Familie, im Club, im Dorf, im Stadtteil. Aber wie die Unschuld dieser geschlossenen Systeme geschwunden ist, so noch mehr in den großen Einheiten. Die Medien ermöglichen so etwas wie eine virtuelle Völkerwallfahrt. Alle sind beieinander. Alle sehen alles gleichzeitig. Und plötzlich sind damit die jüdisch-griechisch-christlichen Werte auf dem globalen Prüfstand – bis dahin stolz und nicht hinterfragt wie eine Ikone herumgezeigt.

Die Glaubwürdigkeitslücke ist riesig. Was wir da treuherzig als eiserne Ration tradieren – Zehn Gebote, Nächstenliebe, „Gott liebt alle Menschen“, ist angesichts unseres konkreten Handelns zumindest in den Augen der Opfer zu Makulatur geworden. Unser Wachstum und unsere Sozialstandards resultieren aus der Plünderung anderer Teile der Erde und ihrer Menschen. Mit Schrecken merken wir – sofern unser Gewissen noch intakt ist -, dass uns die Mittel fehlen, das von uns verursachte Unrecht zu beenden bzw. international so zu agieren, dass faire Vereinbarungen zustande kommen. Das Maß der Ungerechtigkeit liegt immer offener zutage – und gleichzeitig die Unfähigkeit, sich auf gemeinsame Werte und Werkzeuge zu deren Durchsetzung zu einigen. Globalisierung muss gestaltet werden – aber wie? Welche Wertvorstellung soll zugrunde liegen und wie wird sie ermittelt? Wird es zu fair balancierten weltweiten Verträgen kommen – so wie es im zusammenwachsenden Europa versucht wird – oder droht ein diktatorisches Sicherheitssystem, das die Reichen von den Armen abschottet? Oder funktioniert das Ganze letztlich nach dem System von Chaos und Ordnung, also als Selbstorganisation durch die Katastrophe hindurch? War der Mensch nicht beauftragt, die harten Selektionsprinzipien der Evolution zu mildern – etwa im Sinne der Bergpredigt Jesu?

Wenn biblische Werte etwas zur Lösung beitragen sollen, dann müssen sie ganz neu angeschaut und aus ihrer Verquickung mit partikularen Interessen herausgelöst werden. Der Glaube an den einen Gott, der Glaube an die Ebenbildlichkeit des Menschen, die Vision von Recht und Gerechtigkeit, die wie Ströme in dürstendes Land fließen. All das muss am Wohl der Schwachen orientiert sein, auch die nach biblischer Überzeugung von Gott geschenkte Gestaltungsfreiheit. Formeln wie „Gott mit uns“ oder „God bless America“ müssen verschwinden zugunsten einer tragfähigen Letztbegründung für ethisches Verhalten in unserer einen Welt. Die Freiheit dazu – das glaube ich persönlich – bekommen wir, wenn uns Vertrauen geschenkt ist, die Gewissheit, uns nicht selbst erschaffen, erhalten und erlösen zu müssen.

Die Zeit drängt. Akademietagungen erwecken manchmal den Eindruck, als spiele das Orchester unverdrossen weiter im Salon ... Aber ich glaube, das engagierte Ringen hat Verheißung. Denn zu allem menschlichen Bemühen kann Gott seinen Heiligen Geist geben. Darauf hoffe ich für Sie und mit Ihnen.