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Buß- und Bettag – Lukas 13,1-9

18. November 2009 in Hasselfelde

Liebe Gemeinde, zunächst ganz herzliche Grüße aus Goslar, speziell von der Marktgemeinde…; ich freue mich über die Einladung und bin gemeinsam mit meiner Frau gerne zu Ihnen gekommen!

Es ist Buß- und Bet-Tag, zwischen Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag, Friedensdekade – eine Zeit voller bedeutsamer Tage und Erinnerungen – und eben auch an 20 Jahre seit der friedlichen Revolution… Als Christen hoffen wir auf Orientierung durch die Bibel – und vertrauen ganz besonders darauf, dass wir sie in den Jesus-Geschichten finden. Heute ist eine davon (eigentlich zwei) der Predigttext. Die Sache mit dem Turm in Siloah und mit dem Feigenbaum, der keine Frucht bringt.

Ich lese das erstmal vor:

Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.

Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.

Ich bin da eben mit meiner Frau eine Stunde lang Auto gefahren – von Goslar bis hier nach Hasselfelde. Viele Verkehrsschilder, Tempobegrenzungen „50“, „70“… Sie kennen das. Wenn man zu schnell fährt, kann „es“ einen erwischen! Die Kamera blitzt – und das kann teuer werden. Ich glaube, ich bin heute ohne so etwas durchgekommen; aber es ist ganz klar: Wenn ich erwischt werde, muss ich zahlen. Selber schuld! Ganz einfach! Wenn ich etwas tue, bin ich für die Folgen verantwortlich. Das nennt man in der Fachsprache den „Tun-Ergehens-Zusammenhang“.

Aber so einfach und klar ist es nicht immer. Manchmal sehen wir nur „Folgen“, sehen, was jemandem passiert; wir wissen aber nicht, wie es dazu gekommen ist. Das hält uns in Unruhe – so lange, bis wir glauben, eine Erklärung zu haben. Zum Beispiel, wenn jemand verarmt: der hat bestimmt, denken wir, über seine Verhältnisse gelebt…; oder wenn jemand erkrankt: na ja, kein Wunder, wie der gelebt hat… Manchmal stimmen solche Erklärungen. Es gibt vernünftiges Verhalten und unvernünftiges. Oft liegt man damit aber voll daneben. Trotzdem: es gibt so eine Neigung, sich die Dinge zu erklären. Alles muss scheinbar seinen Grund haben… und wenn wir den finden, sind wir erleichtert.

Als Jesus das Gleichnis von dem Feigenbaum erzählt hat, waren gerade zwei Katastrophenmeldungen aktuell: Die eine Meldung betraf ein Blutbad, das Pilatus angerichtet hat. Einige Pilger aus Galiläa hatten sich zum Gebet im Tempel versammelt, als sie Pilatus ermorden ließ. Wir wissen nicht, was dem voranging. Vielleicht waren sie in Verdacht geraten, einen Aufstand gegen die Römer zu planen. Die andere Meldung ging um einen Befestigungsturm. Er war umgestürzt, und die Trümmer hatten 18 Menschen erschlagen. Natürlich ist hierbei Schuld im Spiel! Pilatus – ein Mörder. Schuldig! Und vielleicht auch die Leute, die den Turm gebaut haben oder ihn kontrollieren mussten: schlecht gearbeitet. Schuldig. Das ist klar.

Aber aus der Sicht der Leute damals war noch etwas anderes klar, scheinbar klar: Die Menschen, die da zu Tode gekommen sind, müssen irgendetwas auf dem Kerbholz gehabt haben. So mutmaßten sie. Sonst hätte Gott das nicht zugelassen, dass sie sterben… Sie müssen eine besondere Schuld auf sich geladen haben, dass sie so bestraft worden sind. Das ist eben der Tun-Ergehens-Zusammenhang. Der Arme, der Kranke – sind sie nicht selbst schuld an ihrem Schicksal? Werden sie nicht zu recht von Gott bestraft?

Jesus macht damit Schluss. Er sagt ganz einfach: Die Menschen, denen das passiert ist, haben nicht mehr Schuld auf sich geladen als alle anderen auch. Punkt. Zufall. Hat nichts mit Gutsein oder Schlechtsein zu tun. Da hätte jeder andere auch gerade vorbeigehen können, als der Turm umfiel. Dann hätte es den oder die getroffen. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Jesus setzt den Tun-Ergehens-Zusammenhang außer Kraft! Gott sei Dank.

Sehr entlastend ist das. Ich brauche mir nichts einzureden, wenn mir Schlimmes passiert. Und ich brauche mir auch nichts einzubilden, wenn es mir besser ergeht als anderen. Das ist Glück. Dafür darf ich dankbar sein.

Genau so sehe ich es mit dem, was vor 20 Jahren passierte – und was in die Vereinigung der beiden deutschen Staaten mündete. Heute gibt es ja erstaunlich viele Menschen, die sich das als Verdienst anrechnen. Tun-Ergehen… Dass es anderen Völkern nicht so gut gelingt – muss wohl an denen liegen… Wie schnell man doch vergessen kann! Haben wir es wirklich mehr als andere Menschen / andere Völker verdient, dass es ein friedliches Zusammengehen gab. Ich schildere es mal aus meiner Sicht:

Mein Geburtsjahr ist 1946, ich bin ein reines „Nachkriegskind“, einer, der weder im Mutterleib noch im Kinderwagen Sirenengeheul und Bombenlärm gehört hat. Als ich anfing, meine Umwelt wahrzunehmen, da gab es bereits das, was bis 1989 galt: das Weltbild der Nachkriegszeit. Wir, so brachten es mir meine Eltern und Lehrer bei, lebten auf der „guten“ Seite: mit Wirtschaftswunder, Zigarren, Volkswagen und den Amerikanern als Freunde. „Drüben“ dagegen, in der „Zone“, da waren die Russen. Und meine Tanten, Cousins und Cousinen – seltsamerweise – auch. Als Kind verbrachte ich da häufig meine Ferien, in Güsten. Mit bangem Herzen und der Mahnung „Sag bloß an der Grenze kein Wort“ wurde ich jedes Mal in Braunschweig in den Zug gesetzt. Die Verwandten „drüben“ machten immer ihre Witze über die Machthaber, aber nur leise, in den eigenen vier Wänden.

Aber keiner, hüben wie drüben, hat mir gesagt, was eigentlich vor meiner Geburt war: 1945, 1939, 1933, 1918, 1914, 1871… Keiner hatte mich über die deutsche Schuld an all dem aufgeklärt: über Hitler, über den Überfall auf Polen, über den Nationalsozialismus, über den Rassenwahn, über den Mord am jüdischen Volk. Niemand hatte mir gesagt, dass der „kalte Krieg“ eine Folge deutscher Politik war. Meine Eltern nicht, weil sie von Politik nichts mehr hören wollten. Meine Lehrer nicht, weil sie es wie die Pest vermieden, auf ihre eigene Rolle im Dritten Reich befragt zu werden.

Erst nach dem Abitur, im Studium, bekam ich die Zusammenhänge wirklich mit. Ich lernte, dass schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch gesagt wurde: jetzt muss Schluss sein mit dem Wühlen in der Vergangenheit – wo man noch gar nicht damit angefangen hatte. Ich lernte, was dieses geflügelte Wort von der „Unfähigkeit zu trauern“ eigentlich bedeutete: eine Zustandsbeschreibung unseres Volkes nämlich. Ich merkte: ich hatte bis dahin alles in der falschen Reihenfolge mitbekommen. Anklage gegen „die da drüben“ – gewiss berechtigt -, aber: bevor die eigene Rolle und die eigene Schuld genannt waren. Ein steiles Klettern auf der Leiter des Wohlstandes, ohne sich zu erinnern, was vorher war, das war bei uns üblich. Seitdem habe ich ein sehr empfindliches Gehör gegenüber falschen nationalen Tönen…

Damals, vor 20 Jahren, habe ich mich sehr gefreut, dass die Christen in der DDR, speziell die evangelischen, eine gute Rolle gespielt haben, gebetet haben, ihre Türen geöffnet, Nachteile in Kauf genommen haben. Aber es hat mich auch gekränkt, dass schon bald Tausende aus der Kirche ausgetreten sind – bereits 1990 in der Noch-DDR – weil es eben Geld kostete… Und: wie wird eigentlich ein Dorf damit fertig, dass es seine Kirche hat in Trümmern fallen lassen? Gibt es Schuldige? Darf man so fragen? Ich fand es richtig, bei der Vereinigung, dass wir da die Glocken geläutet haben – aber es hat mich befremdet, dass dies Leute forderten, die bis dahin gar nicht wussten, wo die Glocken hängen…

Also: kein Tun-Ergehens-Zusammenhang; kein „Verdienst“, dass wir alle diese Zeit überlebt haben, dass nicht Krieg ausgebrochen, dass nicht geschossen worden ist. Jesus hat Schluss gemacht mit diesem Schwarz-Weiß-Denken: dass es die „Schlechten“ zu Recht treffe, und dass die „Guten“ belohnt werden. Er sagt: ihr seid alle gleichermaßen schuldig. Er könnte es auch anders ausdrücken: ihr seid gleich weit von Gott entfernt. Und für euch alle gilt: ihr müsst unbedingt umkehren! Ihr müsst in euren Herzen Buße tun. Das drückt er ja dann mit dem schönen Gleichnis vom Feigenbaum:

Jemand hat einen Feigenbaum in seinem Weingarten, findet aber über die Jahre hinweg keine Früchte. Da sagt er dem Gärtner, er soll ihn doch abhauen. Der aber will dem Baum noch eine Gnadenfrist geben, und nicht nur das: Er will die Erde auflockern und Dünger streuen, damit der Baum noch mal eine Chance bekommt zu zeigen, was in ihm steckt. Die Zuhörer wussten, was gemeint ist. Sie alle hatten einen Zeitaufschub bekommen. Und sie wussten auch, dass sie bisher nur verschont geblieben sind, weil Gott viel Geduld mit ihnen hat. Man kann Gott mit dem Gärtner vergleichen, der den Boden lockert und den Dünger streut. Das tut er in der Hoffnung, dass sich in unseren Herzen etwas ändert. Der „Boden“ sind wir, der „Dünger“ ist sein Wort.

Weil er Schuld vergibt und neuen Anfang möglich macht, können wir das auch. Brauchen nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, brauchen keinen falschen Nationalstolz. „Verdient“ haben wir in den Augen Gottes nichts, geschenkt hat er uns aber sehr viel. Und ganz viel steht noch aus. „Lass ihn noch dieses Jahr“, sagt er; „Gnadenfrist“ ist das, von Gott gewährte Zeit.