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1. Advent – Römer 13, 8-12

29. November 2009

Der Predigttext steht im Römerbrief im 13. Kapitel:

Gegenüber jedem erfüllt eure Pflicht und Schuldigkeit! Nur in der Liebe ist es anders: Hier gibt es keine begrenzte Pflicht, sie ist grenzenlos. Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Alle Gebote, wie die gegen Ehebruch, Mord, Diebstahl, Gier und so weiter, kann man in dem einen Satz zusammenfassen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wer den Nächsten liebt, tut ihm nichts Böses. So ist die Liebe die vollkommene Erfüllung des Gesetzes. Daran haltet euch, denn ihr wisst ja, dass nicht mehr viel Zeit ist. Ihr müsst langsam aufwachen, denn seit damals, als wir Christen wurden, ist das Heil näher gerückt. Die Nacht geht dem Ende zu, der Tag ist zum Greifen nahe.
(Übersetzung: Klaus Berger)

Zugegeben, liebe Gemeinde, besonders „adventlich“ klingt das nicht – auf den ersten Eindruck hin. Man erwartet eher was mit Jesus, der nach Jerusalem einreitet, auf dem Esel… Wir haben das Evangelium gehört. Und jetzt so was, Römer 13. Es gibt ja einen Textplanausschuss; der hat vor Jahrzehnten Texte empfohlen, 6 Reihen. Heute beginnt Reihe 2, Römer 13 mit der berüchtigten Aufforderung: Seid untertan der Obrigkeit. Adventlich klingt allenfalls der Vers: „Die Nacht geht dem Ende zu, der Tag ist zum Greifen nahe.“ Aber gerade diese Aufforderung ist besonders problematisch! Warum?

Einfach gesagt: Paulus hat sich da zu früh gefreut. Er lebt in der Erwartung, dass die Wiederkunft Christi nahe bevorsteht, noch zu Lebzeiten: Naherwartung. Das macht den Text zwar zu einem Adventstext – aber: für damals! Oder? Man kann das aber genau anders herum betrachten. Was für eine wichtige Bibelstelle! Für uns! So etwas wie ein „letztes Wort“. Sie kennen vielleicht solche Fragestellungen in kleinen Gruppen: „Was würdest du tun, wenn du nur noch 3 Tage zu leben hättest?“ Voriges Jahr gab es dieses tolle Projekt: den letzten Koffer packen: was würdest du rein tun? Wenn das so zugespitzt wird, wird es ernst! Da muss man rausrücken mit dem, worauf es wirklich ankommt. Letzte Worte! Hinterbliebene hüten sie wie einen Schatz. „Seine letzten Worte waren…“. so wird ehrfürchtig berichtet. Und wenn es etwas Schönes war, dann rührt das noch nach Jahren zu Tränen: „ich habe euch lieb“, oder „vertragt euch!“ oder „ich bin dankbar für mein Leben!“ Letzte Worte, Vermächtnisse. Viel mehr wert als materielle Erbschaften. Es gibt ganze Bücher, Sammlungen mit solchen letzten Worten.

Joseph Haydn soll gesagt haben: „Seid fröhlich, Kinder, ich bin wohlauf“. Von Moritz von Sachsen – in Goslar kein Unbekannter – ist überliefert: „Das Leben ist nur ein Traum. Meiner ist kurz gewesen, aber schön.“ Und viele Sterbende sagen Worte wie: „Kann das der Tod sein? Die Tore sind weit offen; es ist herrlich!“ Manchmal klingt es auch sehr profan, so bei dem Verleger Ernst Rowohlt: „Gebt mir ein Glas Doppelbock!“ sollen seine letzten Worte gewesen sein… Ob’s stimmt? Goethe: „mehr Licht!“ Luther: „Wir sind Bettler!“ Jedenfalls: wo das Ende naht, werden Worte wichtig – sie werden zum Vermächtnis, sind unwiderruflich – und geben wieder, was einem Menschen wirklich wichtig ist.

So ist das auch hier, bei Paulus. Letzte Worte; zwar nicht als Sterbender, aber er erwartet das Ende! Was ist ihm wichtig, was sagt er der christlichen Gemeinde in Rom quasi für die kurze Zeit – Wochen / Monate / ein paar Jahre… bis zur Wiederkehr Christi? Wir dürfen zu Recht erwarten, dass es nicht Kompliziertes ist, keine endlose Aufzählung von Dingen, die wir tun müssen, glauben sollen, zu unterlassen haben. Es müsste etwas Zentrales sein, eine Art Zusammenfassung, der Kern der Sache… Und tatsächlich! Er enttäuscht uns nicht. …und es ist gar nicht so ungeschickt von der Kommission, die die Predigttexte vorschlägt. Es ist 1. Advent; wir warten auf das Kommen Jesu. Unsere Frage ist: was sollen wir bis dahin tun? Welches Verhalten ist angemessen? Was sagt Paulus also?

Zunächst etwas ganz Nüchternes: „Seid niemand etwas schuldig“. Gemeint ist: Als Mitglieder dieser Gesellschaft habt ihr bestimmte Aufgaben und Pflichten: denen kommt nach! Das ist leicht zu verstehen, irgendwie eine Selbstverständlichkeit. Christen haben nach Recht und Ordnung zu leben wie andere auch. Das war (und ist) nicht überall selbstverständlich. Paulus hatte es auch mit christlichen Gruppen zu tun, die das ganz anders sahen. Die glaubten, für sie als Getaufte gelten die Regeln der Welt nicht mehr. Steuern zahlen: wir doch nicht! Gesetze halten, den sozialen Zusammenhalt fördern: gilt nicht für uns! Schwärmer, … gab es zu allen Zeiten, damals, zur Reformationszeit, heute… Nein, das ist für Paulus klar: die Regeln der Welt gelten auch für uns. Das ist das Eine.

Aber dann: für euch kommt noch etwas dazu, sagt er. Pflicht und Schuldigkeit erfüllen, das gilt für alle… Bei uns aber gibt es etwas Größeres, Umfassenderes: die Liebe! Was die angeht, „gibt es keine begrenzte Pflicht, sie ist grenzenlos.“ Ja, sie ist die Erfüllung des – von Gott gegebenen – Gesetzes. „Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt“. Man kann sogar alle Gebote – nicht ehebrechen, nicht töten, nicht stehlen, nicht gierig sein – damit zusammenfassen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Wer sich ein wenig auskennt in der Bibel, der weiß: das hat auch Jesus gesagt. Auch er war gefragt worden: was ist denn die Zusammenfassung der vielen Einzel-Gebote und Gesetze? „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“, antwortete er – nicht etwa als etwas Neues, sondern als Zitat aus der Heiligen Schrift, dem „Alten Testament“. Es ist eine ur-alte Zusammenfassung, – und mir kommt sie aktueller als je vor. Gab es je eine Zeit, in der so viele Menschen im Elend gelassen wurden; gab es je eine Zeit, in der persönlicher Wohlstand so zum Fetisch wurde? Gab es je eine Zeit, die so hemmungslos verbrauchte und zerstörte?!

Aber zurück zu Paulus. „Nächstenliebe“, Gebote halten. Ich höre schon die Kritiker: Dass Paulus ein Moralapostel sei; dass das doch ewig dasselbe sei von den Kanzeln herab: Nächstenliebe. Dass das der eigentliche Inhalt aller Predigten sei, Ethik, Moral… Viele mögen das so erlebt haben; es gab lange Phasen in der Geschichte, wo Pfarrer als Moral-Lehrer auftraten, als Obrigkeit, als Zuständige in Sachen Zucht und Ordnung, wohl geachtet bei der Obrigkeit, weil Kirche das Volk ruhig und gesittet hielt. Unter diesem Image leiden wir heute. Es ist ganz schwer deutlich zu machen, dass „Nächstenliebe“ nur ein Teil der Botschaft ist. Um es deutlich zu sagen: ein nachgeordneter. Aber immer tut man so, als sei er das Ganze. Liebe Leute! Es ist nicht zum Aushalten! Das ist so, wie wenn man vor einem Apfelbaum steht und sagt: mich interessieren nur die Früchte. Das ganz Drum und dran, der dicke Stamm, die Wurzeln, die Äste, die Blätter, die nehmen doch nur Platz weg. Absurd! Man will die Früchte, aber ohne Baum. So gehen viele mit dem christlichen Glauben um – und mit Paulus. „Nächstenliebe“, okay, klingt gut, ist was Schönes. Aber das ganze Drumrum? O weh!

Der Text, von dem ich hier rede, steht im Kapitel 13! 13 von 16! Also ziemlich am Ende! Die Aufforderung zu einem Leben, das dem Nächsten nichts Böses tut, die steht erst am Ende! Sie ist Folge von dem, was vorausgeht! Was geht voraus? Was ist die Wurzel, der Stamm, der Ast, woran die Frucht „Nächstenliebe“ wächst? Advent! Die Antwort auf die Frage kommt in der Gestalt Jesu Christi. Paulus sagt: er, Christus, ist des Gesetzes Erfüllung. Scheinbar ein Widerspruch zu dem, was wir gerade besprochen haben: dass wir durch Liebe das Gesetz erfüllen sollen. Wir wissen in Wahrheit: das können wir nicht. Das sagt Paulus ja! Lieben – das ist keine begrenzte Pflicht, das ist grenzenlos, damit kommen wir nie ans Ende…

Aber keine Sorge!

Unsere Liebe, unsere Nächstenliebe ist ja lediglich eine Antwort auf das, was längst passiert ist: Christus ist des Gesetzes Erfüllung, nicht wir sind es. Das Gesetz ist erfüllt! Grob gesagt: nicht wir retten die Welt, auch nicht mit einem noch so tollen Verhalten. Wir haben diese Welt nicht geschaffen – wir werden sie nicht erlösen. Also entspannt euch, sagt Paulus. Gott sieht euch als solche an, die bereits alles richtig und gut gemacht haben. Da, wo ihr Früchte bringt, freut er sich. Da, wo keine sind, kümmert er sich drum wie ein sorgfältiger Gärtner. Er gibt euch nicht auf.

Das ist eine der großen Lektionen des christlichen Glaubens, liebe Gemeinde. Klingt nicht besonders adventlich – ist aber die richtige Ausrüstung für das neue Kirchenjahr, das heute beginnt. Es ist die Lektion des „schon“ und „noch nicht“. Es ist schon alles getan: Christus hat das Gesetz erfüllt. Es fehlt nichts. Und doch ist „noch nicht“ alles getan. Noch ist nicht genug geliebt. Noch leben Menschen unerlöst. Noch wird dem/der Nächsten geschadet, noch wird das Gesetz Gottes verletzt, massiv. „Ausgeglichen“ wird das durch die Langmut Gottes. Er schaut nicht auf unser Versagen, sondern auf die Liebe Christi seit seiner Ankunft. Er schaut auf die Wurzel und den Stamm. Und er freut sich über Blüten. „Schon – und noch nicht“. Eine der großen Lektionen des Glaubens.

Advent – das bedeutet demnach: wir warten darauf, mehr von diesem „schon“ zu erleben. Das „noch nicht“ ist uns schmerzhaft bewusst. Wir spüren es am eigenen Körper in Schmerz und Behinderung. Wir sehen es um uns herum an Leid und Armut. „Noch nicht“ genug Liebe, „noch nicht“ genug Heilung, „noch nicht“ genug Trost. Aber wo ist das „schon“? Wo ist im Vergänglichen das Unvergängliche? Wo ist im Leiden die Freude? Wo ist im Versagen die Vergebung? „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer“; Advent! Er, der längst da ist, kommt zu uns, ganz neu, ganz anders. Das ist sein „letztes Wort“, es gilt. Er kommt!